Die alte Dame

Kurzprosa

von  BeBa

Vor Wochen war sie mir aufgefallen. Wie sie dasaß, allein, schräg gegenüber am Fensterplatz. Jeden Morgen in der U-Bahn, stadtauswärts, gegen den Strom. Ihr Blick hinaus. Wurde es draußen wieder dunkel, spiegelte sich ihr bejahrtes Gesicht im Fenster. Schaute sie sich an?
Ab und zu waren die Scheiben beschlagen, dann malte sie darauf mit ihren Handschuhen. Irgendwann lehnte sie sich zurück in die Kopfstütze und schloss die Augen.
Wenn ich ausstieg und an unserem Wagen vorbeilief, ging ihr Blick durch mich hindurch. Hat sie je gelächelt?
Die Bahn fuhr ab. Still verschwand sie im Dunkel der U-Bahnröhren. Stadtauswärts.

Am letzten Mittwoch blieb ihr Sitz leer und niemanden interessierte die beschlagene Scheibe. Am Donnerstag saß ein älterer Mann dort, vor sich hin schnarchend, und am Freitag ein junges Mädchen, das mit ihrer Freundin laut herumalberte.

Heute sitze ich auf ihrem Stammplatz, wische ein wenig über das Fensterglas. Es ist dunkel draußen, ich bin allein mit meinem Spiegelbild. Lehne mich zurück in die Kopfstütze, schließe die Augen. Der Lautsprecher kündigt die nächste Station an. Ich fahre weiter ins Dunkle. Hinaus aus der Stadt.

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Kommentare zu diesem Text


 AchterZwerg (30.10.21)
Hier wird die "Einsamkeit" des Alters schlicht und gut bebildert, mehr noch seine Ausgrenzung, dieses allmähliche Unsichtbarwerden ...

Liebe Grüße
der8.

 BeBa meinte dazu am 30.10.21:
Danke dir, lieber 8ter.

LG in die Nachbarschaft,
BeBa

 tulpenrot (03.11.21)
Es ist fast so, als ob der Sitzplatz nicht von anderen, von Fremden "entweiht" werden dürfe. Er "gehört" der alten Dame und der Erinnerung an sie. Ich kann es nachvollziehen, wie ein völlig unbekannter Mensch urplötzlich ein wichtiges Puzzleteil des eigenen Lebens werden kann. Unbeabsichtigt, ohne große Geste.

So wie bei mir der alte Mann beim Domgottesdienst, den ich nun schon seit Wochen ängstlich im Fernsehen beobachte. Ängstlich, ob er auch wieder da ist oder ihm etwas zugestoßen sein könnte. Oder der "Heidenei", der bucklige alte Mann, der über eine lange Zeit in demselben Regionalzug wie ich saß und mit sich selber sprach und seine Rede immer wieder mit "Heidenei" unterbrach. Er fehlt mir seit den letzten 2 Jahren. Was aus ihm geworden ist?
Oder das uralte Ehepaar aus dem Nachbarort, das sich wohl seit ihrer Hippiezeit nie in ihrer schräg anmutenden Garderobe verändert hat. Immer mit ungepflegten, zotteligen, ungekämmten, verfilzten Haaren. Wovon oder wie sie gelebt haben?
Oder die Frau in schlabbbrigem Look mit weißen Turnschläppchen und dicken naturfarbenen Wollsocken, die einige Haltestellen lang in einer Wiener Straßenbahn mir gegenüber saß.

Warum denkt man über sie nach? Man hat doch zu 98% des eigenen Lebens nichts mit ihnen zu tun-.Aber wenn sie nicht da sind, fehlen sie.

Ich mag sowas ...

Nachtrag: Was ich zu erwähnen vergaß:
Ich fand deine Art, diese "Begegnung" zu schildern irgendwie besonders - über die einfache Schilderung des "Vorfalls" hinausgehend dadurch, dass dein Protagonist am Ende das Verhalten der alten Dame übernimmt, aber weitergeht als sie. "Ich fahre weiter ins Dunkle. Hinaus aus der Stadt" und nicht nur ihre Richtung "stadtauswärts" nachahmt, wobei ja nicht klar wird, ob sie wirklich bis zum Ende der Stadt kommt. Er kommt aber ans Ende.

Kommentar geändert am 03.11.2021 um 15:28 Uhr

 BeBa antwortete darauf am 04.11.21:
Hallo tulpenrot,

ich danke dir für deinen ausführlichen und passenden Kommentar. Er freut mich und bereichert den Text noch ein wenig in meinen Augen.

Ganz lieber Gruß,
BeBa
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