Schwarz-weiße Katze

Kurzprosa

von  BeBa

Seit Beginn meines Hausarrestes hat sich viel verändert. Der Blick hinaus ist mir nicht verboten, nur das Klopfen, Winken und Öffnen des Fensters habe ich zu unterlassen. So erlebe ich jeden Tag mit, was draußen vor sich geht.

Und es gibt viel zu sehen. Zum Glück, was wären es sonst für elend lange Tage hier in diesem Zimmer. Ja, von meiner ehemaligen Wohnung ist mir das Wohnzimmer als einziger Aufenthaltsort zugewiesen worden, den ich nur verlassen darf, um die Toilette aufzusuchen. Der Flur dorthin ist gänzlich unbeleuchtet und so ist es hilfreich, dass ich den Weg zum WC aus Erfahrung blind finde.
Seit dem Arrest habe ich hier keinen Menschen getroffen. Nicht einmal die guten Seelen kenne ich, die dreimal täglich das Essen vor die Tür stellen. Sie klopfen und ich hole mir mein Tablett herein. Zu sehen ist niemand.
Das Essen schmeckt, da kann ich mich nicht beklagen. Auch sonst fehlt es mir an nichts. Ich höre Musik von einer hochwertigen Stereoanlage, auf dem Flatscreen kann ich jeden gewünschten Spielfilm der letzten dreißig Jahre abrufen. Selbst das Bett ist ausgesprochen bequem. Kein Wunder, hatte ich mich doch erst kurz vor dem Arrest völlig neu eingerichtet. Die gesamte Einrichtung durfte ich übernehmen, soweit sie in das eine Zimmer passte.

Die ersten Tage waren nicht leicht. In einen Arrest muss man sich zunächst einmal einleben. Ich lief stundenlang im Zimmer auf und ab, nahm auf dem Sofa Platz, um wieder hin und her zu laufen und am Ende in den Fernsehsessel zu fallen.
Und ich erinnere mich, auf jedes Geräusch hinter der Zimmertür geachtet zu haben. Zu Anfang hörte ich regelmäßig Schritte, manchmal auch Flüstern, das jedoch zu leise war, um etwas verstehen zu können. Und ich wartete darauf, dass einmal die Tür aufging und jemand hereinkam und mitteilte, dass der Arrest beendet wäre und ich das Zimmer ab sofort wieder verlassen dürfe. Aber Schritte und Flüstern wurden seltener. So verging die Zeit.

Aus Verzweiflung stellte ich mir irgendwann einen Stuhl ans Fenster und begann damit, hinauszuschauen. Erst tagsüber, dann Tag und Nacht und schließlich auch zu jeder Jahreszeit, denn solange dauert mein Arrest mittlerweile.
Und beim Blick auf die Straße, der mir nach und nach die öde gewordenen Filme ersetzte, offenbarte sich mir das übliche Treiben, das ich seit jeher von hier oben aus kannte. Doch waren die Bilder jetzt intensiver und ich beobachtete Dinge, die mich früher nicht interessiert hätten.

So wartete ich zum Beispiel jeden Abend auf die schwarz-weiße Katze. Sobald es dunkel war, erschien sie aus dem Nichts und schlich gemächlich im matten Licht der Straßenlaternen über den Bürgersteig. Näherte sich eine Person, vielleicht sogar ein Hundehalter, sprang sie elegant ins Buschwerk und verschwand. Ich stellte mir vor, wie sie dort abwartend kauerte. Zuweilen dauerte es über zehn Minuten, bis sie wieder aus den Büschen auftauchte. Je häufiger ich das beobachtete, desto mehr fieberte ich ihrem Wiedereintritt in mein Bild entgegen. Und da war so etwas wie Angst, dass sie irgendwann für immer verschwinden könnte.

Während die nächtlichen Stunden eher etwas Meditatives für mich hatten, sprudelte der Tag über vor Aktivität. Die Hauptstraße durch die kleine Stadt führte ihren rege fließenden Autoverkehr vor unserem Haus vorbei. Dieser wurde, von meinem Fenster aus gesehen, keine fünfzig Meter weiter nach rechts regelmäßig von einer Fußgängerampel ausgebremst. Vor allem vormittags standen immer junge Mütter mit Kinderwagen an der Ampel, um die Straße zu überqueren. Ihr Ziel war der Stadtpark, dessen Eingang ich direkt gegenüber auf der gegenüberliegenden Straßenseite im Blick hatte. Den Park umschloss eine uralte mannshohe Mauer aus einer anderen Zeit, und ein schweres Eisentor, das nachts geschlossen wurde, diente als Parkeingang.
Und während Kinderwagen in angemessen gemächlichem Tempo in den Park hinein- und wieder hinausgeschoben wurden, eilten Menschen mit Aktentaschen mitten durch diese Ruhe. Selbst von hier oben aus sah ich diesen Getriebenen ein Leiden an, das sie eines Tages aus ihrer eingefahrenen Bahn werfen würde.
Autos gaben beim Wechsel der Ampel auf Rot noch einmal Gas oder bremsten widerwillig, um dann bereits bei Gelb der verlorenen Zeit hinterherzufahren.
Ab und zu führte eine ältere Dame ihr kleines Hündchen an der Leine aus, in dem ihrem Alter gemäßen Tempo. Welch ein Spaß, wie die Eiligen über sie fluchten! Und dann setzte ihr Vierbeiner auch noch ein Häufchen mitten auf den Weg.

Das Leben lief dort unten auf der Straße weiter, während ich hier oben im Arrest ausharrte. Keiner wusste von meiner Situation, und sie hätte gewiss auch niemanden interessiert.
So vergingen Tage und Wochen. Es wurde nie langweilig. Mal gab es einen Streit, dann einen Unfall oder etwas Anderes zu beobachten. Unterbrochen wurde mein Schauspiel nur durch das Klopfen an der Tür und das anschließende Mahl.
Aber am Ende bleibt doch nichts so, wie es ist.

Eines Tages fiel mir auf, dass keine Autos mehr fuhren. Die Fußgängerampel funktionierte weiterhin, die Kinderwagenmütter warteten wie gewohnt brav auf die grüne Geherlaubnis, bis das Signal für die Fahrzeuge auf Dauerrot und für die Fußgänger auf Dauergrün geschaltet wurde. Ein paar Wochen lang, vielleicht auch nur Tage, dann wurde die Ampel komplett abgeschaltet.

Es wurde still auf der Straße, ich beobachtete immer weniger Passanten. Mittlerweile war der Spätherbst angebrochen, kein Wetter mehr für lange Parkspaziergänge.

Dann, am heutigen Morgen, kurz vor Weihnachten, schaute ich aus dem Fenster und stellte fest, dass das Tor zum Park verschlossen ist. Keine Menschenseele lief auf der Straße. Und mir wurde erst jetzt bewusst, dass ich die alte Dame mit ihrem Hündchen auch schon länger nicht mehr gesehen hatte.
Niemand klopfte an die Tür, keiner brachte mir mein Essen.

Als es dunkel wurde und ich hinausschaute, brannte nur eine Straßenlaterne, die vor unserem Haus. Und in ihrem Schein sah ich die schwarz-weiße Katze mitten auf der Straße laufen. Ganz langsam schlich sie voran und immer wieder schaute sie sich um, fühlte sich augenscheinlich unwohl. Niemand war da, vor der sie ins Gebüsch springen musste.

Ich habe Hunger. Öffne die Zimmertür, doch da steht immer noch kein Tablett. Verlasse das Zimmer, gehe durch meine dunkle Wohnung, zur Wohnungstür. Drücke die Klinke: nicht abgeschlossen! Schritt für Schritt, vorsichtig nach so langer Zeit, steige ich die Stufen im Treppenhaus hinab. Höre nichts als meine Schritte und das bekannte Knarren der alten Holztreppe. Dann gehe ich durch den ebenfalls unverschlossenen Hauseingang auf die Straße. Bleibe stehen. Schaue mich um. Ganz allein. Die letzte Straßenlaterne erlischt.
Mache einen Schritt, noch einen.

Gehe los, hinein ins Dunkel. Und spüre die ersten Schneeflocken auf meinem Gesicht.



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Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (13.09.24, 23:25)
Warum hat er das Haus nicht früher verlassen, da doch die Zimmertür zu öffnen war?

 BeBa meinte dazu am 13.09.24 um 23:41:
Tja ... 

Die Zimmertür war übrigens immer zu öffnen, immerhin hat er sich ja das Essen geholt.

 Graeculus antwortete darauf am 13.09.24 um 23:52:
Eben deshalb frage ich mich das. Sie war zu öffnen und niemand in Sichtweite, der ihn hätte aufhalten können.
An sich hat die Geschichte etwas von Kafka.

 BeBa schrieb daraufhin am 14.09.24 um 00:03:
Ich habe schon verstanden, lieber Graeculus.

Wenn du schon Kafka erwähnst, fällt mir gleich "Vor dem Gesetz" ein. Oder auch obrigkeitshörig. Oder so manches mehr.  ;)

Danke für deine Denkanstöße.

 Moja (14.09.24, 11:58)
Kafkaesk, dachte ich auch beim Lesen, Beba, und am Ende: Ist nicht jeder sein eigenes Gefängnis bzw. schafft er es sich durch Schwarzweiß-Sehen zum Beispiel, das im Titel anklingt. 
Jedenfalls gerne gelesen, war gespannt auf den Schluss  :)
Grüße von Moja

 BeBa äußerte darauf am 14.09.24 um 23:36:
Danke, Moja. Ja, tatsächlich bin ich froh, wenn der Text vom Leser nicht wörtlich genommen wird. Was er dem Prot abnimmt und was nicht, das bleibt natürlich auch der Phantasie des Lesers überlassen.  ;)
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