Im Gefängnis

Kurzprosa zum Thema Biographisches/ Personen

von  Solvy

Ich war am Tiefpunkt meines Lebens angekommen und sah mich in einer Gefängniszelle vor dem kleinen Fenster sitzen. Mit den Stäben im Blick schaute ich hinaus in die Ferne, voller Sehnsucht. Ich betrachtete die Menschen, wie sie durch die Gegend liefen, alles bestaunten, lachten, tanzten, sich an der Schönheit erfreuten. Ich hatte mir extra das Bett in meinem Gefängnis vor das Fenster gestellt, damit ich hochsteigen konnte um hinauszusehen. Jeden Tag stieg ich auf das Bett, konnte mich gar nicht losreißen von dem Anblick dieser blühenden Landschaft. Ich stellte mir vor, wie ich durch sie hindurchlief, es den Menschen gleichtat und mich an der Farbenpracht erfreute. Fast ein Jahr lang schaute ich jeden Tag hinaus, von morgens bis abends. Ich sah die Pflanzen in dem Rhythmus der Jahreszeiten sprießen, aufblühen und wieder vergehen. Am Ende eines jeden Tages überfiel mich stets eine tiefe Trauer, manchmal gemischt mit Verzweiflung. So gerne wollte ich dort draußen sein und nicht in meiner Zelle. Ich verzehrte mich nach der Freiheit, nach den Möglichkeiten, die ich dort wähnte. Selbst wenn ich schlief, drehte ich mich zur Fensterseite, so als ob ich noch durch die Wand hinaus schauen wollte, selbst im Schlaf.

Doch am Ende des Jahres, als sich alles Leben wieder zurückzog und die Bäume kahl wurden, bin ich des Anblicks überdrüssig geworden. Es erschien mir sinnlos, mich weiter mit dem Betrachten einer Landschaft zu quälen, die mal lebendig gewesen, aber jetzt nur noch trostlos war. Stattdessen suchte ich eine Alternative und wandte mich zum ersten Mal mit voller Aufmerksamkeit der Zelle zu, dem wo ich war. Ich betrachtete die Wände intensiv, Stein für Stein, sah mir genau die Rillen an, die Unterschiede in den Farben der Steine und in der Breite der Fugen. Jeden Tag entdeckte ich neues an den Wänden: Manche Steine hatten kleine Risse, winzige Löcher oder ihre Ecken waren abgesprungen. An anderen waren Sprüche geschrieben oder Bilder gemalt worden. Auch waren in die Fugen Nägel eingeschlagen, um daran wertvolle Utensilien aufzuhängen. Nachdem ich die Wände genau betrachtet hatte, beschäftigte ich mich mit Decke und Fußboden. Ich verfolgte genau die Wanderung des Sonnenlichts, die Schatten der Stäbe und die Schauspiele, die sich aufgrund der Vögel ergaben, die am Fenster vorbeiflogen. Als letztes nahm ich die Tür unter die Lupe, besah mir die Beschläge, die Scharniere, das Guckloch und das Schloss. Ich schaute durch das Schlüsselloch, konnte aber nichts erkennen. Ich befühlte ihr Material, klopfte sie ab und drückte zuletzt die Klinke herunter. Der Riegel ging zurück und die Tür öffnete sich. Erstaunt ließ ich sie los. Sie fiel weiter auf und gab einen Blick frei, den ich nie erwartet hätte: Eine unberührte Landschaft, deren Anblick mich zutiefst rührte. Ich fühlte mich angezogen von ihrer Ursprünglichkeit, ihrer Fülle, ihrer Vielfalt. Und was mich am meisten beeindruckte war, dass dort keine Menschen zu sehen waren und auch nichts darauf hinwies, dass dort je welche gelebt hatten. Zunächst glaubte ich zu träumen, rieb meine Augen, schloss sie und machte sie vorsichtig wieder auf, kniff mich, um mich zu wecken, aber sie blieb. Diese Landschaft war keine Illusion. Ich trat einen Schritt hinaus aus meiner Zelle, vorsichtig, zaghaft, um bloß nicht zu fallen. Doch es war fester Boden unter meinen Füßen und ich konnte leicht voranschreiten. Sobald ich die Zellentür durchquert hatte und einige Meter gegangen war, überkam mich das Gefühl endlich zu Hause zu sein. Eine Leichtigkeit ergriff mich und ich begann mein Gefängnis zu vergessen. Ich ging immer weiter ins Landesinnere und mit jedem Schritt verblasste mehr und mehr die Erinnerung an die Zelle, die Stäbe und die Landschaft auf der anderen Seite. Ich war angekommen in meinem Land.



Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 AchterZwerg (20.04.22, 18:47)
Hallo Solvy,

erst dachte ich an einen "Drübigen" (Eva Menasse: Dunkelblum) und die versprochenen blühenden Landschaften im sog. Westen.
Auf einer anderen Ebene geht es um ein inneres Gefängnis, das verlassen wird.
Im Blühenden lebt aber niemand; zumindest keiner, den man kennt.

Hier schließt sich der Kreis.

Sehr angetan <3
der8.

 Solvy meinte dazu am 21.04.22 um 10:57:
Danke AchterZwerg, tatsächlich geht es um ein inneres Gefängnis. Das von dir angeführte Buch kenne ich leider nicht, kann aber die Assoziation gut nachvollziehen zu diesen blühenden Landschaften ;)

Viele Grüße
Solvy

 GastIltis (20.04.22, 19:58)
Hallo Solvy,
wenn man echt im Gefängnis gewesen ist, (zu Vernehmungen), hat man kein gutes Gefühl. Ich habe es zwei oder drei Mal über mich ergehen lassen müssen. Man denkt immer, ein falsches Wort, und man bleibt.
Ich habe vor nicht langer Zeit Dostojewskis „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ gelesen, nicht zum ersten Mal!
Ich weiß nicht, ob du die Lesbare Zeitschrift für Literatur „Drecksack“ kennst. Die Aprilausgabe ist eine Sondernummer KNAST. Falls du Interesse hast …
Willkommen und sei herzlich gegrüßt von Gil.

 Solvy antwortete darauf am 20.04.22 um 23:36:
Hallo Gil.,
danke für deinen Kommentar. Ich kann mir vorstellen, dass es in materiellen/realen und nicht nur geistigen Gefängnissen sehr unangenehm ist und man schlechte Gefühle hat. Eine Freundin von mir hat mir davon auch berichtet und erzählt ihr Erfahrungen Jugendlichen, die das eher als etwas betrachten, durch das man Anerkennung bei den Kumpels gewinnt. Dadurch dass sie das selbst erlebt hat, bekommt sie Zugang zu ihnen und kann sie hoffentlich von Dummheiten abbringen ...

Die Zeitschrift kenne ich nicht, aber ich werde mal mich darin umschauen - danke für den Tipp.
Liebe Grüße
Solvy
IsoldeEhrlich (12)
(21.04.22, 09:39)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Solvy schrieb daraufhin am 21.04.22 um 10:59:
... das ist auch eine Möglichkeit, den Text zu lesen - lieben Dank! Solvy

 EkkehartMittelberg (21.04.22, 13:01)
Hallo Solvy,
es scheint so leicht, dem inneren Gefängnis zu entfliehen. Doch man muss den Ausbruch durch genaue Selbsterforschung erarbeiten.
Gruß
Ekki

 Solvy äußerte darauf am 21.04.22 um 17:40:
Hallo Ekki,
dem kann ich nur zustimmen.
Liebe Grüße
Solvy

 Dieter_Rotmund (22.04.22, 14:50)
Ständig nur "ich hier, ich da, ich tue dies, ich tue jenes, ich denke dies , ich denke das". Nee, sorry, gefällt mir nicht!

 Solvy ergänzte dazu am 22.04.22 um 18:47:
Danke Dieter, für deine ehrliche Meinung. Es ist eben Geschmackssache.
Liebe Grüße
Solvy

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 27.04.22 um 12:01:
Neeee, das ist nicht einfach nur Geschmacksache,  sondern einfach so, dass Dein Ich-Erzähler wegen dieser Dauer-Egozentrik sehr eintönig rüberkommt.

 Solvy meinte dazu am 27.04.22 um 13:30:
Die Person ist ja auch dabei von sich selbst zu sprechen und seine Situation in einem Bild zu beschreiben. Da er von seinem Innenleben erzählt, schreibt er selbstverständlich die ganze Zeit von sich - das bleibt nicht aus, finde ich. Für dich kann das egozentrisch  und auch eintönig rüberkommen, aber dann scheinst du den Text nicht als Beschreibung eines wahrgenommenen inneren Zustands bzw. Prozesses gelesen zu haben. Das ist eine Selbstreflexion des Erzählers - nicht mehr und nicht weniger. Das kann einem gefallen oder eben auch nicht ...

Antwort geändert am 27.04.2022 um 13:32 Uhr

Antwort geändert am 27.04.2022 um 13:49 Uhr
tild (59) meinte dazu am 19.05.22 um 19:01:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram