Singende Spinne, pfeifender Hund

Kurzgeschichte

von  RainerMScholz

Die kleine Arachnide, nicht größer als ein Fünfmarkstück, die ich verbrannte mit dem Gas aus einem Deodoranten und meinem Feuerzeug, und die dann immer noch lebte in ihrem riesigen, zerrissenen Netz, sie wohnt jetzt bei mir, verkrüppelt, blind und entstellt, aber sie ist immer in meiner Nähe, sie humpelt über das Parkett, läuft nachts durch mein Hirn, und sie frisst die kleinen behaarten Fliegen, die ich für sie totschlage. Ihre schillernde Zeichnung ist zerstört und sie schimmert nicht mehr im Dunkeln, aber wenn ich abends vor dem Fernseher sitze, ist sie da, hinter dem Regal, unter der Kommode, in einer Ecke des Zimmers, in der ich sie nicht erwartet hätte, und starrt mich mit ihren toten blinden Augen an.

Mit der Zeit haben wir uns aneinander gewöhnt. Sie frisst die toten Fliegen und ich die toten Dosenravioli; wir hören die gleiche Musik und ihr Körper vibriert auf den Dielen; wir schauen die gleichen Filme, lesen die selben Bücher. Und wenn es dunkel ist, macht jeder seins. Kreuzspinnen sind einzigartig. Sie glaubt das bestimmt auch von mir.

Sie krabbelt in mein Ohr und singt ein Gute Nacht-Lied mir; ich geh´ über die Straße und dann pfeife ich ihr; sie folgt.

Ich baue ihr ein kleines Wägelchen aus Reißbrettstiften und einer Streichholzschachtel, damit sie es leichter habe; doch sie wollte es nicht. Vielleicht störte sie der Geruch der Schwefelhölzchen.

Dann habe ich ihr ein kleines Tellerchen auf den Tisch gestellt. Nach einigem Zögern nahm sie es an, und jetzt essen wir zusammen.

Irgendwie hat sie auch mein Herz verbrannt, so wie ich ihres.

Ich habe ihr ein Bild gemalt, viele Bilder, aber sie läuft nur darüber hinweg. Wenn die Farben noch feucht sind, sieht man ihre winzigen Spuren.

Wenn es Nacht ist, und jetzt ist viel die Nacht, dann liegen wir nur im Bett still, denken nach, starren an unsichtbare Decken, und dann schlafe ich vielleicht ein, ich weiß nicht genau, und sie schläft, die kleine Arachnide, und wir träumen. Träumen uns die Welt. Als ich noch lebte und sie die leeren Körperhüllen ihrer Opfer unbeachtet liegen ließ. Hier und dort. Einfach so.



© Rainer M. Scholz



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Kommentare zu diesem Text


 FrankReich (05.07.22, 21:35)
1,95583. 👋🙂👍

Ciao, Frank

 RainerMScholz meinte dazu am 05.07.22 um 21:41:
Pi oder die Umrechnungstabelle für DM in € (2001).
Gruß + Dank,
R.

 Thal antwortete darauf am 05.07.22 um 22:36:
auf jeden Fall nicht mehr, als das doppelte.. so nicht,

 RainerMScholz schrieb daraufhin am 05.07.22 um 22:57:
Einen Doppelten nehme ich an jeder Theke. Achtung: Oder gleich ein Herrengedeck.

 FrankReich äußerte darauf am 06.07.22 um 00:31:
Das ist schon korrekt, es handelt sich um den Umrechnungskurs, wenn der Text allerdings aktuell ist, wundert mich der Größenvergleich mit dem Heiermann, wer denkt denn heutzutage noch an den?
🤔

Ciao, Frank

 RainerMScholz ergänzte dazu am 07.07.22 um 15:21:
Ich denke dauernd an Geld, wenn ich nicht gerade an etwas anderes denke.
Grüße,
R.

 AchterZwerg (06.07.22, 07:17)
Super Teil!
Die Erinnerung kriecht spinnengleich im Prota auf.
Auch der war nicht immer nur ein Guter ...

Die Sache mit dem Fünfmarkstück (hier ein Symbol für die "verlorene" Zeit) gefällt mir besonders. <3

 RainerMScholz meinte dazu am 07.07.22 um 15:20:
Eine sehr gute Interpretation der numismatischen Dimension des Textes (und auch sonst).
Gruß + Dank,
R.
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