Flieg in die Nacht

Kurzgeschichte zum Thema Verständnis(los)

von  RainerMScholz

Sie sprechen mit mir, ich bin ganz sicher. In dem rollladenverdunkelten Dämmer des Zimmer, in das das Licht nur durch die Schlitze dringt, bewegt sich einer der kleinen weißen Filter eigenartig auf dem Tisch, die ich sonst in meine Selbstgedrehten einrolle, und die Fliege, die dort sitzt, starrt mich schelmisch an; dann krabbelt sie geschwind hin und her zwischen verstreuten Krümeln, den verdreckten Glasuntersetzern und der Zigarettenasche, und dann bewegt sie den kleinen zylindrischen weißen Filter noch einmal, dass der einige Zentimeter hin- und herrollt, spielerisch fast und wie ungewollt. Aber mir ist klar geworden, dass die Stubenfliege, die mir sonst um den Kopf schirrt und mich tierisch nervt, mir etwas mitteilen möchte. Das ist genau wie mit den Wespen, die sich hierher verirren und dann den Ausgang nicht mehr zu finden vermögen; sie fliegen um meine Beine, starrten einen Scheinangriff und knallen dann an die spiegelnde Fensterscheibe; aber eigentlich wollen sie meine Hilfe, wirklich. Ich stehe dann auf, schnappe mir ein herumliegendes, dünnes Werbeprospekt und bugsiere sie zur Tür hinaus ins Freie. Sie scheinen immer ganz dankbar zu sein, stoßen noch ein-, zweimal zaghaft an die Scheibe und sind verschwunden. Ich bin noch nie gestochen worden. Wie mit den Fliegen: früher habe ich die umgebracht, mit der Klatsche, einer alten Zeitung oder einfach mit der flachen Hand. Aber seitdem die Fliegen mir Zeichen zu geben scheinen, habe ich damit aufgehört. Ich habe alle verfügbaren Zigarettenfilter, sogar gebrauchte, auf dem Tisch verteilt und versuche die Roll- und Bewegungsmuster wie Morsezeichen, die ich aus dem Lexikon habe, zu deuten. Bis jetzt ohne Erfolg. Manchesmal dachte ich schon, da ist doch etwas, ein Satz, ein Wort, aber dann schreibe ich das meiner Phantasie zu oder meinem Willen, etwas zu verstehen. Ich stelle kleine Schälchen mit Flüssigkeit auf und verstreue Kekskrümel. Die Wespen kommen auch immer öfter; ich glaube, die wohnen jetzt im Rollladenkasten, da summt es und surrt und die Intervalle dieser sonoren Geräusche vermitteln doch auch eine Botschaft. Lauter Leben, Wesen, geflügelte Entitäten, Flugkameraden; das ganze Zimmer ist voll, wimmelt und krabbelt und brummt und fliegt und surrt. Ein- oder zweimal oder so bin ich jetzt aber auch schon gestochen worden, oder gebissen. Wenn ich einfach dasitze, mich nicht bewege und das Surren und Vibrieren nur ruhig deute, das aus der Schwärze der wimmelnden Wolke kommt, dann kann ich das Geheimnis sicher entschlüsseln, ein großes Geheimnis, eine Botschaft des Friedens, eine Nachricht an die Nachwelt.




© Rainer M. Scholz



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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (12.08.22, 22:38)
Darf ich fragen: Ist das autobiographisch?

 RainerMScholz meinte dazu am 14.08.22 um 15:22:
Darf ich antworten, was ich immer antworte: Es ist keine Betriebsanleitung (außer vielleicht für Leser, die den Text so begreifen wollen, was ich nicht empfehlen würde).

 harzgebirgler (31.08.22, 12:15)
was gab's doch früher sommers für insekten
die windschutzscheiben gern auch voll verdreckten
und offenbar inzwischen längst verreckten!

grüße
h.

 RainerMScholz antwortete darauf am 03.09.22 um 15:01:
Erst die Sauger und Stecher,
dann die Menschenkinder.
Gruß + Dank,
R.
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