Tiefenwandler

Erzählung zum Thema Verständnis(los)

von  RainerMScholz

Tiefenwandler


Sie war blind. Sie war es schon immer gewesen, kannte die Welt nur im Dunkel. Er hatte sie einfach untergefaßt, als sie mit einer Einkaufstüte und dem Blindenstock die Straße überqueren wollte. Er hatte sie unter Protest zu seinem Wagen geführt, sie auf den Rücksitz gestoßen und war losgefahren. Zwecklos versuchte sie die mit Kindersicherungen verschlossenen Autotüren zu öffnen, zwecklos, dass sie schrie, dass sie mit den Fäusten gegen die Fenster hämmerte. Sie war blind.
Allein in diesem Raum. Eingeschlossen. Der Raum, dem Geruch und der Feuchtigkeit nach zu schließen ein Kellerraum, war unbeleuchtet, was für sie jedoch keine Rolle spielte. Es war still. Beinahe zu still, denn sie hörte keinen Vogel, kein Summen von Geräten oder Maschinen, keine entfernte Straße, nicht das Rauschen von Blättern an den Bäumen. Vielleicht besaß der Raum kein Fenster. Vielleicht besaß der Raum keine Tür. Sie konnte sich nicht erinnern, wie sie in den Raum gelangt sein könnte. Sie hatte gegen die Fenster des fahrenden Autos gehämmert. Dann war sie in dem Raum. In der Stille dieser Kammer, in der sie ihr Blut in den Ohren rauschen hören konnte. Die Augen suchten dennoch das blinde Dunkel ab, ihre Hände tasteten unsicher über die gekalkten Mauerwände. Alles war kahl, es gab keinen Bezugspunkt, außer den vier Wänden und dem Boden, auf dem sie stand, die Decke vermochte sie nicht zu erreichen. Linkisch und unsicher war sie zweimal in die Höhe gesprungen. Die Wände strömten neben dem Kalkweiß noch einen anderen Geruch aus: den von verschweißtem Plastik, kaltem Metall, einem Füll-oder Dämmstoff aus Silikon, ein Geruch, oder vielmehr ein Gefühl an ihrem Gaumen wie feuchtes Tuch, wie alter Lappen. Zitternd ließ sie sich an einer Wand zu Boden gleiten. Ihr Körper schwitzte stark. Sie konnte ihre eigene Furcht riechen. Kalte Perlen glitzerten auf ihrer Stirn. Sie war gefangen in diesem Raum im Nirgendwo.
Der Mann war geräuschlos durch eine unsichtbare Türe eingetreten. Bewegungslos stand er im Raum und beobachtete sie. Ihr kurzgeschorenes Haar war brünett, am Haaransatz beinahe blond. Unter ihrem verrutschten, einfach geschnittenen grauen Kostüm zeichnete sich ein durchschnittlich proportionierter Körper ab, schlank, sportlich vielleicht. Weiße Kragenaufschläge nach der Mode der Siebzigerjahre säumten das aufgeknöpfte Revers. Sie hatte die Schuhe abgestreift, ihre Nylonstrümpfe waren zerrissen. Die Augen in ihrem bleichen Gesicht suchten ziellos die Decke ab. Er beobachtete sie. Ihre verängstigte Unsicherheit, ihre Angst. Er bekam eine Erektion. Sie bemerkte ihn.
"Hallo? Hallo, ist hier jemand? Wer sind sie? Lassen sie mich doch bitte gehen. Ich kann sie nicht sehen. Hallo!".
Blind tastend irrte sie unsicher im Raum umher. Der Entführer entfernte sich wieder.
"Wer sind sie? Weshalb haben sie mich mitgenommen? Lassen sie mich doch gehen. Bitte. Ich kann sie doch nicht sehen.".   
Sie schrie und gestikulierte ziellos in das Schwarz hinein. Sie hatte sich nicht geirrt: es war jemand dagewesen. Sie stolperte in den Raum, prallte gegen eine der Wände und stürzte auf den Rücken. Ihre Kostümjacke lag zerrissen am Boden. Sie mußsse sich übergeben. Sie weinte, ihre Augen waren weit blauverschleiert aufgerissen.
Nach einer undefinierbaren Zeitspanne hörte sie damit auf.
Sie glaubte, es sei Tag, als sie erwachte, ihre Umgebung wahrnahm und zurückkam in die Realität, die der Raum war. Wie sollte sie es jemals wirklich wissen. Vielleicht war das der Traum. Und ein anderes die richtige Wirklichkeit. Doch sie schien ihren Körper ganz genau zu spüren, den spezifischen Geruch, den Geschmack auf ihrer Zunge, den leichten, kaum wahrnehmbaren Druck, den ihre Haut auf ihr Fleisch ausübt. Und sie registrierte die Aura des Raumes, seine blinde Farbe, sein Wesen. Und sie nahm noch etwas anderes wahr: Er ist da.
"Wer sind sie? Wo haben sie mich hingebracht? Bitte lassen sie mich doch gehen. Ich bin blind.".
Sie kroch auf ihn zu, dorthin, wo sie ihn vermutete.
"Hören sie nicht? So antworten sie doch, sie Arschloch.", schrie sie aus verzweifelter Wut und zitternd vor Angst. Er kauerte am Boden. Als sie ihn berührte, schrak sie panisch zurück und flüchtete zur gegenüberliegenden Wand. Sie zog die Knie an. Tränen flossen ihre Wangen hinab. Ihre Augen blinzelten nicht.
Er beobachtete sie. Schießlich erhob er sich und schritt auf sie zu.
"Was tun sie? Sagen sie etwas. Sagen sie doch endlich etwas!".
Er schüttelte den Kopf und blickte zu Boden. Er verließ den Raum lautlos.
Er konnte ihr nicht antworten, denn er war taub und stumm.
Es mußten Tage vergangen sein. Einige Male hatte sie Nahrung erhalten. Ihre Notdurft verrichtete sie in eine chemische Toilette, die irgendwann gebracht worden war.
Der Fremde war in für sie nicht bestimmbaren Zeitabschnitten erschienen, doch er sprach nie zu ihr. Sie saß jetzt die meiste Zeit in der Mitte des Raumes und wiegte den Oberkörper leicht hin und her. Die Kluft zwischen Traum und Wirklichkeit war fließend geworden.
Er sprach nie. Wenn sie seine Gegenwart spürte, zog sie sich an eine Wand zurück und wartete, was geschähe. Es geschah nichts. Er beobachtete sie und verließ den Raum wieder durch einen Zugang, den sie nicht finden konnte.
Wie das Verstreichen der Zeit geschah, war nicht länger zuverlässig zu bestimmen. Sie hätte nicht einmal zu sagen vermocht, ob sie Langeweile empfand oder bloß die ermattende Müdigkeit zwischen dem Vergehen der Zeit von einer Minute zur nächsten. Manchmal sang sie leise, vielmehr summte sie Melodien, die aus der sich verdüsternden Struktur ihres Gehirn bis an ihr Bewusstsein drangen, oder das, was sie noch dafür hielt.
Endlich betrat er ihre Verbannung. Er wollte, dass sie nun endlich verstehe, wollte, dass sie ihn ansehe mit ihren Augen, die nichts sahen. Er wollte jemanden hören in seinem stillen Gefängnis, einen Menschen. Er wollte sie hören, wie sie ihn sah. Sprechen mit fleischlosen Zungen, hören mit tauben Ohren. Sie schrak zurück, doch er zwang ihre Finger an seine Lippen, drückte ihren Kopf an seine Brust, dass sie sein Herz höre. Sie verstand nicht. Sie verstand ihn nicht, denn sie war gefangen in ihrem eigenen dunklen Raum. Was er so sehr erhofft hatte: sie konnte es nicht verstehen und sie konnte es nicht geben.
Zutiefst enttäuscht ließ er sie los, sie sank schluchzend zu Boden. Verständnislos irrten ihre Augen durch den Raum und blieben blind auf der Gestalt des Mannes haften. Als wüssten sie. Er riss sie empor und schlug ihr ins Gesicht. Seine Hände wühlten sich durch ihre getragene Kleidung, gierig saugte er ihre entblößten Brüste, Speichel troff auf ihren Körper, schimmerte im Dunkel der Schatten. Ihr Schreien, Heulen und Keuchen zerrte an seiner sprachlosen Seele. Er warf sie zu Boden, drängte ihre Beine auseinander und vergewaltigte sie.
Als er fertig war, strich er mit den Fingerspitzen über ihr tränenfeuchtes Gesicht. Ihre Augen sahen an die Decke.
Sie wird niemals von hier entkommen, das wußte sie jetzt, nie aus dieser Nacht entfliehen können. Sie wird nie sein Gesicht sehen werden. Irgendwann aber würde sie verstehen, davon war er überzeugt. Es würde so sein, dass sie ihn hört.


(c) Rainer M. Scholz

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