Flüchtiger Moment

Text zum Thema Achtung/Missachtung

von  Moja

Auf einmal hörte ich dicht neben mir eine Stimme und schrak auf, als ich angebettelt wurde. Ich war so vertieft in meine Gedanken gewesen, dass ich einem unwillkürlichen Impuls folgend nur stumm den Kopf schüttelte. Der junge Mann ging weiter, den Becher in der Hand, und sprach Fahrgäste an. Keiner gab ihm etwas. Plötzlich hielt der Zug auf offener Strecke, vor dem Fenster verstellte eine besprühte Mauer die Sicht. Ich sah wieder den Bettler vor mir, seine sensiblen Gesichtszüge. Er erinnerte mich an den Schauspieler Sebastian Urzendowsky. Er wirkte verletzlich, hungrig, in Not. Warum hatte ich ihm nicht etwas gegeben, eine Kleinigkeit nur? Es hätte mich nicht viel gekostet. Der Moment, als er mich leise ansprach und ansah, überrumpelte mich. Ich schaute ihm nach. Er saß im letzten Abteil, aß und trank etwas mit einer Selbstverständlichkeit wie ein Arbeiter in der Frühstückspause. Dunkle Locken fielen ihm in die Stirn. Wenn der Zug losfährt, dachte ich, öffne ich mein Portemonnaie und suche ein Geldstück heraus. Das tat ich, als sich der Zug wieder in Bewegung setzte und ging auf ihn zu. Dankbar sah er auf, als ich ihm eine Münze in den Becher steckte. Beim Aussteigen bemerkte ich noch, wie ihm auch der Mann neben ihm freundlich ein Geldstück zusteckte. Danke, hörte ich ihn sagen.



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Kommentare zu diesem Text


 uwesch (02.11.22, 20:05)
Solche Situationen kenne ich auch. Manchmal zögert man zu lange mit einer Spende, obwohl es nicht wehtut.
LG Uwe
Agnete (66) meinte dazu am 02.11.22 um 20:21:
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 Moja antwortete darauf am 03.11.22 um 12:50:
Manchmal ist man einfach nicht handlungsfähig, Uwe.

In Berlin wird man täglich mindestens sechs mal angebettelt innerhalb einer halben Stunde. Es sind zu viele! Wenn man sich ein bisschen kennt, ist das was anderes, liebe Agnete, trotzdem bleibt danach ein schales Gefühl zurück.

Danke für eure Kommentare und Empfehlung,
liebe Grüße, Moja
Teolein (70)
(03.11.22, 08:12)
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 Moja schrieb daraufhin am 03.11.22 um 12:52:
Das geht einem schon nahe, Teo, da hilft man gern. 
Danke dir!
Lieben Gruß, Moja

 Dieter_Rotmund (03.11.22, 16:12)
Sebastian Urzendowsky: In Pingpong hat mir seine Leistung gut gefallen, in Berlin 36 nicht. Von seinen jüngeren Sachen kenne ich nichts. Vielleicht war er es, sich auf eine neue Rolle vorbereitend?  :ninja:

 Moja äußerte darauf am 04.11.22 um 10:57:
Stimme dir zu bei den Filmen. Den Gedanken, dass er es gewesen sein könnte, hatte ich auch, vielleicht erfahren wir es in seinem nächsten Film?  8-)
Danke, Dieter!

 harzgebirgler (03.11.22, 16:21)
„Feinfühligkeit beim Almosengeben ist die Anmut des Wohltuns.“ (Sully Prudhomme - übrigens der 1. Literaturnobelpreisträger)


LG
harzgebirgler

Kommentar geändert am 03.11.2022 um 16:26 Uhr

 Moja ergänzte dazu am 04.11.22 um 10:58:
Was du alles weißt! Da muss ich gleich mal forschen nach dem ersten noblen Preisträger, danke!

LG Moja

 EkkehartMittelberg (03.11.22, 19:02)
Hallo Moja, diese flüchtigen Momente sind so wichtig für eine sensible Gesellschaft.

Liebe Grüße
Ekki

 Moja meinte dazu am 04.11.22 um 11:00:
Danke für dein Verständnis, Ekki, das ist ein sehr wichtiger Gedanke!

Grüße herzlich zurück,
Moja
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