Nur im Wachstum gibt es Sinn

Essay

von  Hamlet

Obwohl jede Disziplin anstrengend ist, erfreut ihr Ergebnis im sichtbaren Wachstum. Von meinem achtzehnten bis neunzehnten Lebensjahr konnte ich im Fitnessstudio meine Muskeln wöchentlich wachsen sehen, bis sich das Niveau nur noch durch erhöhtes Training gehalten hat. Dabei wird das Verhältnis zwischen Wachstum und Investition immer fraglicher. Steigerungen werden nur noch durch hohen Aufwand minimal sichtbar. Wenn man kein natürlicher Athlet ist und keine Meisterschaften kämpft, macht es im Spiegel wenig Unterschied, ob ich drei oder fünfmal in der Woche trainiere.  Schließlich reicht es ab einem gewissen Alter aus, zweimal wöchentlich zu trainieren und die drei weiteren Male durch geistige Tätigkeiten wie etwa dem Lesen oder Schreiben zu widmen, um das Wachstum intellektuell fortzusetzen. Denn mit meinen einundvierzig Jahren halte ich mein Niveau, wenn ich zweimal trainiere. Ich könnte auch mit fünf wöchentlichen Trainingseinheiten kaum noch meine Muskeln aufbauen, sondern muss im Gegenteil aufpassen, dass die Gelenke nicht verschleißen. 

 

Nur intellektuell kann ich noch aufbauen, wenn ich mich zum Beispiel in Geschichte, Politik, Kunst und Philosophie belese. Körperlich halte ich ein gewisses Niveau mit möglichst wenig Aufwand, während ich geistig noch zu wachsen versuche. Obwohl ich aber geistig noch wachsen kann, ist man ab vierzig von der kognitiven Auffassungsgabe und Schnelligkeit i. d. R. schon über dem Zenit. Zwar kann ich neues Wissen in meine Schubladen integrieren und verknüpfen, sodass sich die kristalline Intelligenz noch vergrößert, doch die fluide nimmt meistens schon ab. Das sehe ich daran, dass ich zwar an meine Hoheitsgebiete anbauen kann, doch schon an Flexibilität, Schnelligkeit und der Fähigkeit, gänzlich Neues zu lernen, einbüße. Mit zwanzig habe ich schneller eine neue Sprache gelernt, als ich es mit vierzig täte. Und allerspätestens mit sechzig erfahren sogar große Intellektuelle, dass sie geistig auch in ihrer kristallinen Intelligenz schon abgebaut haben. Kant hat sich im hohen Alter selbst nicht mehr verstanden. 

 

Was können wir hoffen, wenn wir unsere Freude vom Wachstum abhängig machen und spätestens mit fünfunddreißig schon körperlich auf dem Zenit und mit etwa Mitte vierzig auch geistig auf dem Zenit sind? Strengen wir uns an, nur um uns noch zu halten? Ist das nicht hoffnungslose Sisyphusarbeit? Was ist also mit der wichtigsten Instanz, die wir allgemein als Seele oder wenigstens als Psyche verstehen können? Ja, das ist die Hoffnung eines Weisheits-Weges. Der buddhistische Weise beginnt erst mit sechzig zu strahlen, indem er tugendhaft geworden ist, Gelassenheit und Güte ausstrahlt. 

 

Frustrierend ist es, wenn man kein Wachstum mehr sieht, weder physisch noch geistig noch seelisch, zumal seelisches am schwersten zu erlangen scheint und neben großer Selbstdisziplin großen Teils vom angeborenen Charakter abhängt, sodass viele es bald aufgeben, sich charakterlich veredeln zu wollen. Die Mehrheit sucht dann verzweifelt ihr Wachstum in einer Materialisierung: in den Kindern, mit deren schnellen Wachstum man sich identifiziert; in Geld, das man anhäuft; natürlich auch im Ruhm, falls es berufliche Aufstiegsmöglichkeiten gibt oder falls man ein Künstler ist. 

 

Ich empfinde zurzeit, dass sich das Leben nur noch lohnt, wenn man irgendein positives Wachstum beobachten kann. Das Alter rechtfertigt sich mir nur noch im seelischen Wachstum. Auch wenn Körper, Intellekt, Geld, Kinder und Ruhm zugrunde gehen, muss doch die Seele im Augenblick des Todes auf ihrem Zenit sein. Ansonsten ist das Alter, wenn nicht verachtenswert, nur noch bemitleidenswert. Um aber an die Seele oder Psyche oder die Veredlung des Charakters zu glauben, bedarf es metaphysischer Überzeugungen, dass etwa ein Gott sei oder dass ein moral-ästhetisches Gesetz (zum Beispiel Karma) wirke, oder es ist einem beschieden, dass man durch die Lebenserfahrungen trotz Abbaus immer humaner geworden ist. Das ist aber eher die Ausnahme, da beobachtet wird, dass mit zunehmendem Alter auch die Verbitterung zunimmt. Diese Vermutung lässt sich vielleicht stützen oder widerlegen, wenn man sich die durchschnittlichen Altersheime und Krankenhäuser ansieht. 

 

Wer sich nur den physischen Weg offengehalten hat, müsste sich mit fünfunddreißig umbringen, falls er weder Kinder noch Geld oder Ruhm wachsen sieht. Wer sich den geistigen oder intellektuellen Weg offengehalten hat, hat noch Lebenssinn, solange er noch alle Lebenszusammenhänge wachsen sieht. Wer einen echten Zugang zum seelischen Weg hat und echte Tugend erlangt, durch die er selber glücklich ist, der allein scheint mir würdig, als überalterter Pflegefall am Leben zu bleiben. Ohne Wachstum bleibt nur die Anstrengung täglicher Lebenserhaltungsprozesse. Ohne Wachstum, auf welcher Ebene auch immer, gibt es keinen Lebenssinn. 

 



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Kommentare zu diesem Text


 GastIltis (19.04.22, 13:04)
Und was ist die Erkenntnis? Das Wachstum an Schwachsinn ereilt manche Texte nicht linear, sondern in höherer Potenz.

 Terminator meinte dazu am 19.04.22 um 20:10:
Hier wächst aber die Aufrichtigkeit von Absatz zu Absatz.

 Terminator (19.04.22, 21:57)
Man könnte einwenden, dass die Kernaussage nicht hinreichend begründet wird, aber sie ist intuitiv selbstevident.

 GastIltis antwortete darauf am 20.04.22 um 20:09:
Besser hätte ich es auch nicht erklären können!

 LotharAtzert schrieb daraufhin am 26.07.22 um 09:59:
Ich schon - aber alles zu seiner Zeit.
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