Nucleinsäurecode

Experimenteller Text

von  Redux

Das Leben ist die Funktion
dissipativer, vorwiegend organischer Systeme,
die auf einer Anzahl von ineinandergreifenden
spezifisch katalysierten Kreisprozessen beruhen.

Leben ist eine dissipative Struktur in einem
Von den 6000 Grad heißen Quanten der Sonne
angetriebenen offenen System,
ein Netzwerk katalysierter chemischer Reaktionen,
gekennzeichnet durch die Verwendung
standardisierter Katalysatoren…
deren Aminosäurensequenz von einem
selbstreplizierenden Nucleinsäurecode gesteuert wird.

 

( Quelle: Heinrich K.Erben)

Dabei betrachte ich diese lästige Stubenfliege,
ihre geäderten Flügel und die vergitterten Augen
und ihre kitzelnden Füße,
die sie mir immer und immer wieder
auf meinen Arm oder mein Gesicht aufsetzt,
um mich zu ärgern und zu ärgern…

Und noch bevor der Begriff Nucleinsäurecode
in mir wie ein granitschweres Geldstück fällt,
noch bevor es, überwältigt,
dass es derartige Begriffe überhaupt gibt,
verdaut werden kann,
liegt die Stubenfliege,
meine plastische Antwort
auf die Frage: Was ist Leben?
zerquetscht auf dem Tisch,
mit zerschmetterten Flügeln
und weißer, hervorquellender Körpermasse.

Ja, ich weiß:
Es ist ein erbärmlicher Vergleich,
ein blödes Fazit,
ein an fünf Fingern abzuzählendes,
seichtes, metaphorisch schwaches Fazit.

Ja, ich weiß.
So ist es.
Und ich weiß es auch nicht besser.
Selbst wenn ich selbstreplizierend und Nucleinsäurecode
vollständig erklären könnte.

So ist es.



So ist es natürlich nicht:
Einige Tage später fand ich diesen Text –
vertrocknet und tot –
und auch zwei schlaue Definitionen _
verreckt und leblos –
und ich dachte mir:

Nucleinsäurecode!
Das muss man erst einmal buchstabieren können.
NUCLEINSÄURECODE !!!

N: Nacht und Morgen und Tag und Abend

U: Und ewig bleibt eine Sehnsucht

C: China 1,412 Milliarden Leben

L: Liebe, ja Liebe

E: Eva und Adam

I: Isaac Newton, Martin Luther, Albert Einstein, William Shakespeare,
Caesar, Alexander der Große, Aristoteles, Christoph Columbus, Mahatma Ghandi, Leonardo da Vinci und Pierre, gelernter Koch, Alkoholiker, der am
4.2.1961 unter einer Seinebrücke mitten in Paris erfriert.

N: Norden Süden Westen Osten

S: Sehnsüchtig grüßt der, der ich bin, den, der ich sein könnte

U: Und immer immer wieder geht die Sonne auf

R: Rote, Schwarze, Weiße, Gelbe, Katholiken, Protestanten, Juden, Quäker, Methodisten, Moslems, Hindus, Sinti, Roma, Mormonen, Freikirchler, Atheisten,
Philosophen, Arbeiter, Prostituierte, Verbrecher, Kaufleute, Jäger, Sammler, Franzosen, Australier, Indianer, Eskimos…Kinder des Lebens

E: Ene mene miste, es rappelt in der Kiste, ene meine meck, und du bist weg

C: Chilischarfes, wimpernschlaglanges Blitzlichtgewitter in nicht enden wollender stockfinsterer Nacht

O: Oxygenium

D: Death is so permanent

E: Ende und Anfang


Äh…
Äh…?

Ä?

Natürlich. Das Ä fehlt.
Immer fehlt etwas.
Heute das Ä.
Und beim nächsten Male das U.
Oder das L.

Und nach einigen Tagen
liegt dort ein Haufen verhutzelter Buchstaben.

Es ist unmöglich
das Leben zu definieren oder zu beschreiben.
Es definiert, beschreibt und buchstabiert
sich immer selbst
immer wieder
neu und anders.




Anmerkung von Redux:

Schon älter.

Ein Experiment, sozusagen.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text

Taina (39)
(26.06.23, 11:21)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Redux meinte dazu am 26.06.23 um 18:49:
Das sehe ich ebenso, aber siehe Quellenangabe: nicht von mir!

 AlmaMarieSchneider (26.06.23, 11:22)
Ich finde Experimente immer gut. Es gäbe ja sonst nichts Neues.

Liebe Grüße
Alma Marie

 Redux antwortete darauf am 26.06.23 um 18:50:
Danke Alma Marie, da stimme ich dir zu, auch wenn sie nicht ganz gelingen...zwinker

 ginTon (26.06.23, 18:23)
das ganze Leben ist ein Experiment, sage ich da nur, und dies beginnt beim kleinsten Baustein. man stelle sich vor die Fliege wär groß und du wärst klein  :P

 Redux schrieb daraufhin am 26.06.23 um 18:52:
Stimmt, ginton, alles eine Frage der Perspektive....gerade wenn es das Wichtigste betrifft.

 AchterZwerg (27.06.23, 07:06)
Mir gefällts.
Der erste Teil, bar jedweder Poesie, im Kontrast zur philosophischen Betrachtung über das Leben und den Tod, die Einsamkeit des denkenden Dichters - und seine Reue. :)

 Redux äußerte darauf am 27.06.23 um 19:34:
Wie immer hast du sehr genau gelesen. 
Das freut mich wirklich sehr.
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram