Kanashibari

Text

von  Lilo

An diesem Tag am See gerann die Gegenwart zu einer zähen Masse. Der Geruch von Moder in der feuchten Luft. Der lautlose Nieselregen. Winzige Nadelstiche auf der Wasseroberfläche. Vicki, die lallte. Anja, die sang. Ich, wartend. Ich wartete da schon. Vorher. Aber das war ein Zufall. Nichts war in der Luft gelegen außer der Feuchtigkeit. Eine banale Naturerscheinung. Meine Gründe waren andere. Ich kannte sie nicht. Langeweile. Vielleicht. Danach taten wir nur noch so, als würden wir atmen. Jede war auf ihre Weise erstickt. Der Tag ging nicht weg, obwohl er vorbei war. Wie die Feuchtigkeit, die wir aus dem Voralpenland mitbrachten, blieb er mit uns in der Stadt und zwischen uns stehen. Wir ließen unsere Köpfe an der Oberfläche treiben. Jede in eine andere Richtung. Ich ging wie unter Wasser. Wie ein Totengräber begann ich in der Zukunft zu leben, das Leben vor Augen, außer Reichweite, als hätte ich es bereits verpasst oder als würde ich es gleich verpassen. Meistens tat ich, was Anja sagte. Sonst gab es nichts zu tun. Ich konnte mit der breiigen Gegenwart um mich nichts mehr anfangen. Ich bereitete mich auf die Zukunft vor. Tagsüber. Nachts wachte ich auf und konnte mich nicht rühren. Ich lag bewegungslos auf dem Rücken. Ein Rauschen in den Ohren, ein Pfeifen. Als würde jemand hineinblasen. „Es zieht mich weg“, dachte ich, ich „es zieht mich aus der Welt“. Ich strengte mich an, dem Rauschen nicht nachzugeben. Unten hörte ich Mamas Schritte. Ich wollte nach ihr rufen, aber ich konnte den Mund nicht öffnen. Ich hatte keine Stimme mehr. Das Rauschen war nicht nur schlecht. Es lag eine Verlockung darin, eine besondere Behaglichkeit in diesem gleichförmigen Rauschen. Alles würde sich auflösen. Gäbe ich ihm nach, würde die Lähmung zu einer Schwerelosigkeit. Später wollte Mama nichts davon hören. Ich machte heimlich einen Termin beim Neurologen. Er machte viele kleine Saugnäpfe an meinem Kopf fest und betrachtete meine Hirnströme auf einem kleinen Bildschirm. Keine Auffälligkeit. Er verschrieb mir Antidepressiva. Ich nahm sie nicht. Was sollten sie gegen den Tod helfen, der nachts sein rauschendes Nichts zu mir schickte, mich zu holen. Es galt durchzuhalten. Ich schrieb im Unterricht Gedichte über tote Spiegelbilder, die Vicki und Anja nicht hören mochten. Andere Wörter brachte ich nicht heraus. Nach den Sommerferien wechselte Anja auf die Realschule. Vickis Diäten schlugen nicht mehr an. Sie nahm zu. Der Glanz, der wie ein Heiligenschein um sie gewesen war, wenn wir den Schulflur entlanggingen, fiel einfach so von ihr ab. Und Vicki fiel einfach so mit ihm. Das Tuscheln hinter ihrem Rücken hatte jetzt einen anderen Tonfall. Es hatte den Augenblick gegeben. Eine halbe Stunde lang. Wir hatten uns im Badezimmer eingeschlossen. Die Jungen klopften an die Tür und lachten. Vicki saß in der Badewanne. Ihre Stimme kam von tief unten. Ein geschundenes Tier. Es war ein wütendes Lallen, kein klagendes. Anja stand vor dem Spiegel und schminkte sich die Lippen. Wie Vicki da saß mit ihrem endgleißten Puppengesicht. Ich glaubte ihr. Aber ich stimmte nicht in ihre Wut ein. Ich ekelte mich vor der Wahrheit. Vor ihr irgendwie. Ich wünschte mir, sie würde aufhören, unbequem zu sein. Ihre Wimperntusche war verschmiert. Das Wasser war hellrosa. Sie würgte. Ich suchte nach einem Eimer. Und fand keinen. 



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Kommentare zu diesem Text


 Pearl (09.07.23, 10:58)
Hallo Lilo,

Schlafparalysen habe ich auch schon erlebt. Ich hatte vorher noch nie von diesem Phänomen gehört. Dann erzählte mir mein Vater, er habe auch so eine Erfahrung gehabt. Auch meine Mitbewohnerin kennt "Kanashibari".

Am Anfang dachte ich bei deinem Text an einen Drogenrausch. Aber vielleicht ist das gar nicht so verschieden.

Im Text erscheint mir alles nur angerissen, die Beziehung der Freundinnen. Das Leben. 
Vicki finde ich am interessantesten. Vielleicht, weil sie unbequem ist. Auch weil sich ihr Aussehen verändert. Guter Satz: "Das Tuscheln hinter ihrem Rücken hatte jetzt einen anderen Tonfall."

Die Stimmung erinnert mich an Banana Yoshimotos Romane.
Ich empfinde es als eine Kurzgeschichte, dessen Sprache den Zustand einer Schlafparalyse nachempfindet.

Liebe Grüße,

Pearl
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