Sie gilt als eine Meisterin der Inszenierung. Über ihre laszive Musik streiten sich die Geister. Hannes liebt ihren hypnotischen Zeitlupen-Cinemascope-Pop, ihre betörende Stimme in den Facetten von sirenenhaftem Wimmern bis hin zu einem düster-verruchten Timbre. Ihre neuste CD hat ihn derartig bestochen, dass er alles daran gesetzt hat, ein Interview mit ihr führen zu können.
Als sie das Café betritt, löst sie eine unglaubliche Faszination auf ihn aus. Ihr Haar schimmert so, dass es den Widerschein des Sonnenlichtes, welches durch die großen Fenster vom Boulevard her einfällt, einfach abschüttelt. Eine stolze, aber auch störrische Unabhängigkeit in ihrem Blick wird von einem zarten Zweifel durchzogen. Einem grundsätzlichen, heiteren, Zweifel, der eher mit dem Fallen im Leben zu tun hat als mit der eigenen Rolle darin. Das ist sein Eindruck im ersten Moment, als sie nach der Begrüßung in der Mitte des Cafés Platz nehmen.
Sie spricht in ihren Formulierungen mit einer Härte, die er nicht erwartet hatte, eine Katze mit Krallen. Und er bekommt das Gefühl, dass sie trotz ihrer erst zweiunddreißig Jahre eine große Klarheit ausstrahlt, mit der sie auf das Leben in der Welt blickt. Und dass sie durchaus auch um die fast lächerliche Zufälligkeit weiß, von allem, was sie tut und was um sie geschieht.
Hannes schaut ihr die ganze Zeit ins Gesicht, das nicht nur durch ihre regelmäßigen Züge und deren reichen Ausdruck schön ist, sondern auch eine Eindrücklichkeit besitzt, die zu ihrer markanten Nase und den braunen Augen mit den geheimnisvollen grünen Einsprengseln wie selbstverständlich gehört. Wenn sie ihren Blick bei persönlichen Fragen abrupt von ihm abwendet, wird für ihn allerdings auch eine diffuse Angst erkennbar.
Nach einer Stunde Gespräch über das Musikgeschehen und das Leben als solches befragt er sie - mutig geworden - nach ihrem Privatleben.
„Mein Vater hatte seine Affären. Mich steckte er in ein feudales Internat, schon als Zehnjährige. Mutter hat mir später erzählt, dass er meinte, ich sei ihr zu nah.“
Er hakt neugierig nach, denn es scheint ihm eine Bruchstelle in ihrem Leben zu sein.
„Nach drei Jahren im Internat kam ich zurück als seelisches Wrack. Aber ich habe gelernt, dass Dinge jederzeit schief gehen können. Ich bekam schulische Probleme, auch weil ich oft zu meinem ersten Freund gefahren bin, statt zu lernen, schaffte dann aber doch mein Abitur, mehr mit Ach als Krach. Ich habe dann nicht studiert, wie es mein Vater gefordert hatte. Mit meinem Elternhaus habe ich gebrochen, dann alle möglichen Jobs angenommen und mich ganz der Musik hingegeben. Doch Angst überfällt mich noch heute, jede Nacht. Es ist als hätte ich schon immer einen Wackelkontakt zur Welt.“
Hannes fragt nach diesem ersten Freund. Sie setzt sich lässig zurück und schaut ihm nachdenklich in die Augen.
„Ach, das war so ein Moment im Leben, in dem sich das Leben entscheidet, aber diese Episode ist nicht gerade interessant.“
Ihm kommt die Antwort so vor, wie sie ein Lehrer gibt, der abwesend aus dem Fenster schaut, weil ihn der Unterricht mit desinteressierten Schülern zu Tode langweilt.
Nach einer kleinen Pause verfällt sie unvermittelt in ein schnelles Stakkato:
„Drei Straßen weiter von hier hat mein älterer Geliebter, ein bekannter Musiker, gewohnt. Ich gehe noch heute jeden Tag an seinem Haus vorbei. Er ist vor drei Jahren gestorben. Da wohnt jetzt nur noch seine Frau.“
Es klingt ein wenig so, als warte sie immer noch auf ihn.
Dann steht sie abrupt auf, wirft einen lodernden Blick auf ihn hinab und stößt den Satz aus: „Vielleicht sollte ich aufhören damit! Einen anderen Weg gehen!“
Diese harschen Worte verhallen in seinen Ohren, gleich ihren klackenden Schritten auf dem Marmorboden, als sie das Café festen Schrittes verlässt, ohne sich noch einmal umzuschauen.