Lebens-Rückblicke in Momentaufnahmen

Erzählung zum Thema Entwicklung(en)

von  uwesch

Dieser Text ist Teil der Serie  LEBENSUNWÄGBARKEITEN (Prosa)

Bruchstückhaft kamen ihm Dinge ins Gedächtnis, die er lange vergessen glaubte. Im Krieg war es in seiner Familie drunter und drüber gegangen - Vater an der Front, Mutter mit dem zweijährigen Sohn auf der Flucht aus Hamburg - kurz vor dem Bombeninferno. Zuflucht fand er mit ihr bei Oma in Dortmund. Eine Großtante wohnte auch noch dort im Haus. Streitereien zwischen den Frauen blieben nicht aus, auch weil Mutter mit anderen Männern flirtete während ihr Mann noch im Krieg war und sie das völlig unmöglich fanden. Es war zu viel für alle auf engem Raum. Mehr als sie das für ein ganzes Leben brauchen konnten. Die Stellen ihrer Seelen, an denen sie verwundet wurden, heilten nie ganz aus, sodass Narben das Leben nach dem Krieg sehr lange bestimmten.

Der Junge ging als Teenager gerne ins Kino. So konnte er seine verletzte innere Welt mit Gestalten bevölkern, die sie bereicherten oder infrage stellten. Die Freundschaft von Winnetou und Old Shatterhand hatte ihn in seiner Jugend besonders fasziniert. Später prägten die vielen Bücher, die er sich aus der Leihbücherei jede Woche auslieh, seine reale Welt. So wurde er zu einer Leseratte und dachte sich ein Leben aus, das stets farbiger und aufregender war als die Wirklichkeit. Es führte mit der Zeit dahin, dass er auch konkret immer Neues ausprobierte und das Malen und später Schreiben von Geschichten zu seinem Hobby wurde.

Bedingt durch die aktuelle Pandemie stellen sich ihm heute wieder Fragen zur Gegenwart und Zukunft, in der sich Gewissheiten aufgelöst haben. Sein Dasein als Mensch und die gesamte Zivilisation sind in einer Art Auflösung begriffen. Im Spannungsfeld von Idealen und Weltanschauungen versus Egoismen und Nationalismen geht globale und individuelle Solidarität teilweise verloren. Hilfsbereitschaft entwickelt sich eher rudimentär über Nachbarschaften. Beatmungsgeräte werden teilweise weggekauft aus Ländern, wo sie auch gebraucht werden, Gesichtsmasken gestohlen und völlig überteuert angeboten.
Ähnlich wie in den Kriegs- und Nachkriegswirren versuchen Menschen das Beste für sich selbst zu ergattern. Manche sind allerdings auch aus Mitgefühl füreinander da. Karl erinnert sich, dass Vater in der Not nach dem Krieg im Kältewinter 46/47 Kohle aus Güterwagen geklaut hatte, um die Wohnung im Winter wenigstens etwas warm zu bekommen. Der erste Satz des Jungen als kleines Kind war: „Ich riere am Topf“, was bedeutete: „Ich friere am Kopf“. Sein Vater wusste sofort Bescheid, was zu tun ist.
Selbst Kardinal Josef Frings predigte am Silvesterabend 1946 in Köln zum siebten Gebot “Du sollst nicht stehlen“, dass in der Not auch der Einzelne sich das nehmen dürfe, was er zur Erhaltung seines Lebens und seiner Gesundheit benötigt, wenn er es durch seine Arbeit oder durch Bitten nicht erlangen kann. Es wäre somit allerdings nicht ganz neu, wenn heute die Situation weiter eskaliert und Menschen “Mundraub“ betreiben. Zu hoffen ist, dass die Sozialsysteme das nicht notwendig machen.

Inzwischen finden sich im Internet in vielen Bereichen kreative und künstlerische Aktivitäten, wie z.B. gestreamte Gratiskonzerte. Journalisten und Experten liefern Tipps und Hinweise zur Alltagsorganisation und unterhalten das Publikum. Ermutigungen lösen den sonst meist tendenziell üblichen Negativjournalismus ab.
Einige Politiker*innen haben das immerhin erkannt und halten nichts von Panikmache. Sie versuchen etwas mehr Optimismus zu verbreiten, so nach dem damaligen Merkel-Motto “Wir schaffen das“. Jeder Mensch hat das Bedürfnis, in einer Krise einen neuen Optimismus zu entwickeln, um emotionale Kraft freizusetzen.



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Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (28.02.23, 11:51)
Lieber Uwe,

ich teile deinen Optimismus zwar nicht, aber du schaust wenigstens hin, wenn du Missstände entdeckst und redest sie nicht schön. 

LG
Ekki

 uwesch meinte dazu am 28.02.23 um 12:14:
Psychologisch betrachtet bringt Wegschauen nichts. Unterschwellig gärt es weiter. Ich denke man muss sich den Dingen stellen, um sich u.a. von Altlasten zu befreien. Wer das nicht tut schleppt körperliche und seelische Lasten sein Leben lang mit sich herum, denkt und handelt nicht frei.
Dank dir für Deine Empfehlung und LG Uwe
Agnete (66)
(28.02.23, 12:38)
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 uwesch antwortete darauf am 28.02.23 um 15:40:
Na ja, es ist sicher nicht in jedem Fall einfach, die Chancen auszuloten und gegebenen Falles auszuprobieren. Doch ständiger Pessimismus führt zu Handlungsunfähigkeit und macht das Leben wenig lebenswert.
Dank dir für Kommi und Empfehlung LG Uwe

 AlmaMarieSchneider (28.02.23, 14:55)
Ein sehr guter und nachdenklich machender Text. Der Mensch hat einen starken Überlebenswillen und rein durch Gesetze und soziale Systeme kann niemand in einer Katastrophe sein Überleben sichern.
Die versagen ja zu aller erst (bis auf Schießbefehle).
Viele mussten nach dem verheerendem Krieg stehlen, um nicht zu verhungern.

Liebe Grüße
Alma Marie

 uwesch schrieb daraufhin am 28.02.23 um 15:45:
Es gibt auch Menschen mit wenig Lebenswille bzw. -kraft aus verschiedensten Gründen. Die trfft es am härtesten und sie sind auch teils suizidgefährdet.
Dank Dir für Kommi und Empfehlung. LG Uwe
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