Bei Anbruch der Nacht

Die länger werdenden Nächte fressen das Licht. Martha kann noch nicht schlafen. Ein Geräusch auf dem Flur - Klaus, der wie jeden Abend ruhelos und hustend auf dem trüb beleuchteten Gang herumschlurft und versucht kein Geräusch zu machen. Wie immer in der Freiburger Seniorenresidenz mit dem unverkennbaren Geruch der dumpfen Luft in allen Räumen.
Sie betrachtet ihre steif gewordenen Hände, so als hätte sie diese noch nie vorher gesehen. Dreht und wendet sie, wie in Zeitlupe, fasziniert, befremdet, verwirrt. Gehören diese Hände wirklich zu ihr? Sie fährt ihren geliebten Laptop hoch, ein Geschenk ihrer Tochter, um Verbindung mit ihrer Enkeltochter Linnea im fernen Hamburg aufnehmen zu können. Es ist der einzige Kontakt, den sie noch zu der Stadt hat, in der sie die längste Zeit ihres Lebens wohnte. Sie hatte als Lehrerin für Deutsch und Kunst gearbeitet. Manchmal ruft auch die Mutter von Linnea an, doch Martha versteht sich nicht mehr gut mit ihr.
Die Griffe in die Tastatur und das Bewegen der Maus fallen ihr inzwischen sehr schwer. Doch die einzelnen Tasten ragen hinein in ihr Leben, bestimmen ihr abendliches Tun. Sie hofft auf eine neue E-Mail. Ja, heute gibt es eine mit einem Bildanhang.

Sie öffnet die Mail von ihrer geliebten Enkelin, die in die dritte Klasse einer Grundschule geht und ihr sehr ähnlich sieht. So wie sie selbst damals noch als Kind aussah. Es ist tröstend, diese Übereinstimmung zu spüren. Ein Augenblick ohne Einsamkeit.

Liebe Omi,
in der letzten Woche hat eine Studentin ein Schulpraktikum in unserer Klasse gemacht. Das war toll. Sie hat das Bild „Wanderer über dem Nebelmeer“ von Caspar David Friedrich an das Whiteboard gebackt. Wir sollten erzählen, welchen Eindruck es auf uns macht. Dann einen Text dazu schreiben. Hier mein Text, in dem Mami die Rechtschreibfehler korrigiert hat:
Ein Mann wollte seinen Wunsch erfüllen. Nämlich eine Landschaft in den Bergen genießen. Er wandert gerne und klettert auf einen hohen Berg. Endlich ist er oben. Er glaubt nicht was er sieht.
Mit lieben Grüßen
Linnea
Anhang: Bild bei wikipedia.org/wiki/Der_Wanderer_über_dem_Nebelmeer

Tränen tropfen auf die Tastatur. Es kommen Erinnerungen aus dem Nebel ihrer Gedanken zum Vorschein, von denen sie nicht mehr wusste, dass es sie gibt.
Ihr fällt etwas ein, von dem sie dachte, dass es längst hinter ihr liegt. Damals musste sie immer den Überblick im Klassengewusel behalten. Das war häufig sehr anstrengend, bis hin zu manch einem Scheitern des gut geplanten Unterrichtes. Und dann die Sternstunden, die den Blick öffneten und Weite in ihrem schönen Beruf schafften. Das Bild auf dem Monitor erzählt von einer Vergangenheit, die ein fast halbes Jahrhundert zurückliegt. Sie saß als junge Lehrerin vor demselben Bild und dachte darüber nach, was sie ihren Schülern erzählen wollte. Ihre Überlegungen, wie sie es kindgemäß darlegen könnte, erforderten viel Vorarbeit. Nichts in ihrem Lehrerinnenleben war einfach gewesen. Sie sah sich in der Klasse stehen. Wenn sie dann den Kindern ein Bild im Rahmen des Kunstunterrichtes erklärte, diese herumalberten und kein Interesse zeigten, hatte sie das Gefühl, dass ihre Mühe umsonst war. Ihr erscheinen die Methoden, die sie damals klar und einleuchtend fand, heute nicht mehr sinnvoll, und das macht sie sehr traurig.

Wehmütig beginnt sie Linnea eine E-Mail zu schreiben. Mit einer sich ins scheinbar Endlose dehnenden Langsamkeit streifen ihre Hände über die Tastatur, bis sie plötzlich den Schmerz in ihren Fingern hört und zusammen sackt. Ihr Kopf fällt ermüdet auf die Tasten.

Draußen tobt der erste Herbststurm und rüttelt an den Rollläden. Schwester Lioba findet sie bei ihrem späten abendlichen Rundgang vor, für immer eingeschlafen.