Vogeltode

Text

von  Lilo

Der fünfjährige Enno fürchtete sich vor dem Einschlafen. Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt. Wenn Gott aber nicht will – jedes Einschlafen barg für ihn die Möglichkeit zu sterben. Auch mir gruselte im selben Alter vor diesem Lied, in dem die Mutter Nägel in ihr Baby steckt. Enno hatte Schwierigkeiten mit roten Fäden, es war nicht leicht ihm zu folgen. „Als mir dieser Kronkorken die Hornhaut zerfetzte“, sagte Enno, „willst du mal sehen?“. Enno bewegte sich zugleich schwerfällig und zappelig. Als müsste er eine Bewegung erst dreimal andeuten und wieder zurückziehen, bevor er es wagen konnte, sie ausführen. So redete er auch, unterbrach sich ständig, er konnte kaum einen halben Satz sagen, ohne vor sich selbst zu erschrecken und sich rückzuversichern. Zwischen uns war nur der Tisch und Theo. Zwei Schritte, höchstens drei. Enno brauchte Zeit, um diesen Weg zurückzulegen, halb tänzelnd, halb strauchelnd. „Siehst, du?“, fragte er, beugte seinen Kopf zu mir hinunter und stieß dabei mit der Hand an das Küchenregal neben mir. Die Gläser klirrten leise. „Wenn ich das Auge verdrehe, sieht man es: Silikon“. Er machte eine ungeschickte halbe Drehung auf der Stelle. „es tat überhaupt nicht weh“, sagte er. „Aber ich war blind“, sagte er. „Ich dachte, ich müsse sterben“, sagte er. „Das war in einem Puff“, sagte er. „Die Ärztin“, sagte er. „Das war das das einzige Mal in meinem Leben, dass es mir jemand versprochen hat“, sagte er. „Sie werden nicht sterben“. Mir war nach Bersten. Etwas wollte aus mir herausströmen. Ich wollte ihn in streicheln und küssen und ihm etwas in die Ohren flüstern, nur Laute, keine Wörter, ihn in Sicherheit wiegen, ihn halten, bis sich Ruhe in ihm ausbreitete. Ich erwiderte nichts. Ich brauchte alle Kraft, um meinen Körper zurückzuhalten. Enno sah mich fragend an. Aber für das, was ich ihm mitteilen wollte, gab es keine Worte, nur Körper.

 

Nachts träumte ich immer wieder von winzigen Vögeln. Sie zitterten in meiner hohlen Hand und reckten ihre fast nackten Hälse zu mir. Ihr Flaum war feucht, ich spürte ihr Skelett durch die dünne Haut. Ich erwachte geschüttelt von meinem eigenen Weinen. Ich fühlte mich, als hätte sich meine Haut umgestülpt, als wäre ich nachts herausgefahren und hätte sie mir falsch herum wieder angezogen. Jeder Luftzug brannte. Ich fühlte mich in diesem Zustand eigentümlich zuhause. Aber niemand sah ihn mir an.


„Ich habe überhaupt kein Grundvertrauen“, sagte Enno verzagt und lachte heiser. Und ich hielt mich zurück und berührte ihn nicht. Abends im Bett, wusste ich was ich sagen würde: „Denk nicht an mich. Deine einzige Aufgabe ist jetzt, dich selbst zu retten.“ Ich würde seine Hände in meine nehmen und in sein feingeschnittenes Jungengesicht schauen: „Ich möchte nichts anderes als dich zu heilen, ich möchte alles von dir nehmen, dich neu gebären von mir aus, aber ich kann es nicht. Ich habe auch überhaupt kein Grundvertrauen“.

 

Und vielleicht könnten wir uns dann küssen. Nur dieses einzige Mal.


Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (18.10.23, 17:22)
Ich verstehe nicht, um was es gehen soll. Die Figuren bleiben blass, die Handlung erscheint mir belanglos?
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram