Jetzt geht wieder alles von vorne los

Text

von  Lilo

Am vierten Tag kam die SIM-Karte, ein paar Stunden später der Anruf. Ich lag bewegungslos auf dem Rücken, niedergestreckt von den Vorgängen in meinem Inneren, die taten, was sie wollten. Diese körperlichen Empfindungen, die mir alles nehmen. Die einen solchen Aufruhr veranstalten, dass mein Körper äußerlich in eine Starre verfällt. Jede planvolle, nützliche Bewegung muss ich mit Disziplin erzwingen. Essen. Waschen. Jeder vernünftige Handgriff ein Aufstand gegen das allmächtige Spektakel in meinem Inneren. Wie kann ich so zwei sein? Ich sah die unbekannte Nummer auf dem Display. Enno. Tatsächlich. Ich bekam kaum Luft. Wie von Dämonen besetzte Menschen aus Horrorfilmen, wanden sich meine Eingeweide zum Klang seiner Stimme. Meine Antworten waren einsilbig. Ich hatte ihm nichts zu sagen, ich wollte ihn sehen, das war schon alles. Ihn sehen oder ihn nicht sehen, war alles, was zählte, alles andere ein verschwommener Brei. Er hatte mein Lieblingsbuch lesen wollen, bevor wir uns das nächste Mal sehen. Aber er hatte es nirgends bekommen. Ob es denkbar wäre, dass wir uns trotzdem sähen. Ob es denkbar wäre. Das waren seine Worte. „Ich komme dich um 20:00 abholen“.

 

Als ich das erste Mal verliebt war, musste ich das Schuljahr wiederholen. Alles glitt an mir ab, rauschte an mir vorbei. Das, was andere Wirklichkeit nennen. Sie war bedeutungslos für mich geworden. Seitdem war ich gewappnet. Romantische Liebe war Gefahr. Vielleicht weckte sie organisiertere, rationalere Menschen gelegentlich aus der Stumpfsinnigkeit ihres funktionierenden Alltags. Ja. Es mag sein, dass diejenigen, die alle ihre Papiere in Ordnung haben, brav ihre 40-Stunden-Woche ablaufen, ohne zu klagen und sich mit Kleidung oder Hausrat berauschen und das klägliche Restbedürfnis nach großen Gefühlen stellvertretend in Filmen und Serien durchleben, nach Verliebtheit gieren. Nach dem Kick. Ich fürchtete mich davor. Malte mir das fulminante Scheitern in den grausamsten Farben vom ersten Tag an aus, damit erst gar kein Rosa zustande käme, das mich einlullen könnte. Wenn es dann über mich hereinbrach, war ich beinahe erleichtert. Zurück in der Wirklichkeit. Ich hielt mich an solche, die nichts versprechen wollten, sodass ich nicht enttäuscht werden könnte.

 

Aber Enno folgte ich. Ausgerechnet. Die Gefahr war zum Greifen nah, aber ich roch sie nicht. Zukunft aussichtslos. „Genieß es“, sagten meine Freundinnen.


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Kommentare zu diesem Text


 Regina (02.11.23, 07:40)
Sehr realistisch beschrieben, wie die einen vor großen Gefühlen in Ersatzhandlungen flüchten, Empfindlichere ihnen ausgeliefert sind und evtl. den Boden unter den Füßen verlieren. Der Erfahrung wert allemal. Gruß Gina

 Rosalinde meinte dazu am 02.11.23 um 14:47:
Liebe Lilo, ein sezierender Blick ins Innen. 
Verwirrung, Erstarrung, aufgelöst durch das Telefonat.
Das Ich hat sich gegen die Liebe entschieden, sie brachte zu viele Schmerzen. Und dann doch Enno. Sie nimmt, was kommt.

Vielleicht sind es ein paar zu viele Sätze, vielleicht müsste die Geschichte gerafft werden. Aber so, wie sie dasteht,
ist sie gut geschrieben. Nur ein Satz scheint mir doch ein wenig zu dick: "Wie von Dämonen besetzte Menschen aus Horrorfilmen ..." Ich würde ihn versachlichen, wie die ganze Geschichte mehr sachliche Stilistik erfordert hätte,
denn das Ich hat sich gegen die romantische Liebe entschieden, nicht noch einmal, sagt sie sich. Aber ich kann die Geschichte verstehen, durch diese Mühle sind wir alle einmal gegangen.

Lieben Gruß, Rosalinde
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