Drei Tage

Text

von  Lilo

Am ersten Tag gab ich mich hin. Ich ging auf Watte. Ein durcheinandergekommenes Ameisenheer lief meine Haut von innen ab, ich atmete schwer. Ich schmeckte ihn noch. Einzelne Augenblicke fuhren mir mit einem Satz vom Kopf tief in den Magen, dass ich erzitterte. Enno, wie er im Flur unserer Wohnung von einem Bein aufs andere tritt, als ich vom Klo komme. Wir küssen uns heimlich, die anderen sitzen in der Küche. „Wolltest du irgendwo hin?“, frage ich und schiebe meine Hand unter sein Hemd. „Nein, ich bin dir nachgelaufen“. Ennos Bauch an meinem Bauch. „Ich kann dich auch einfach nur halten“. Seine aufgekratzten Arme und Beine. Seine Gesichter im Gesicht, abhängig vom Blickwinkel. Die asymmetrische Nase, die teilweise weggefräste Nasenscheidewand, gaben ihm etwas Kubistisches. Die Haut an meinem Kinn war aufgerieben von seinen Bartstoppeln. Fast eine Stunde lang bearbeitete ich den Filzklumpen, der mir von meinem Haar geblieben war, mit einem groben Kamm. Mila wollte alles wissen, ich antwortete mit erstickter Stimme. Trieb noch zu sehr in ihm, um über ihn zu reden. Ich setzte mehrmals an und verhedderte mich in Seitensträngen. Ich sprach schon wie er. „Muss ja gut gewesen sein, wenn du erst jetzt nach Hause kommst“. Zwei Nächte und ein Tag. Die Chronologie war zerrüttet.

 

Am zweiten Tag hatte ich ein paar wache Minuten. Machte meine Wäsche. Sortieren, Waschen, Aufhängen. Bis ich wieder an ihn dachte, dass es mich schüttelte. Und während es in mir zog und wirbelte und drängte, wurde die Luft dick und schwer um mich und drückte mich nieder. Ich legte mich ins Bett, bis mein Körper sich wieder beruhigt hatte. Mein Magen war roh und nicht gewillt, Materie in sich aufzunehmen. Mein Kopf war hineingerutscht und nährte ihn mit Farben, Blitzen und einem endlosen Kanon in D-Dur von Pachelbel. Erst gegen 17:00 schaffte ich es, zwei Scheiben Vollkorntoast mit Marmelade hinunter zu zwingen. Enno sonntags im Café hatte sich zum Frühstück einen doppelten Espresso und ein Bier bestellt. „Du musst was essen, Enno“, hatte ich gesagt. Schneller als ich denken konnte, waren die Worte aus mir gesprungen. „Ok, ja, du hast recht“. Der Kellner lachte. Am Montagmorgen hatte er einen letzten Rest Wodka aus der Flasche vom Vorabend gesaugt. Meine Magenschleimhaut zog sich an seiner statt zusammen. Enno machte eine seiner typischen Bemerkungen, um sein Tun ironisch zu brechen. Vergeblich. „Schön, dass du so gut weißt, was gut für andere ist“, sagte ich am zweiten Tag zu mir selbst.

 

Am dritten Tag kam die Angst. Meine neue SIM-Karte war noch immer nicht angekommen. Er würde mich nicht erreichen können. Ich tastete nach den letzten Schwaden des Rausches, in dem ich selbstverständlich davon ausgegangen war, dass er sich melden würde. Dass alles nur eine Frage meiner Erreichbarkeit wäre. Ich griff ins Leere.


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