Der letzte Kitsch 2

Text

von  Lilo

Enno, der mich auf beide Augenlider küsst, auf die Nasenspitze und zum Schluss auf den Mund. Enno, der eine plötzliche Bewegung macht, ein angedeutetes Hüpfen, sich die Hände vors Gesicht schlägt, dass etwas sich umwälzt in mir. Ein winziges, ungeschütztes Wesen, das nicht weiß, wohin mit sich. Dass ich Gott anrufen möchte. Kraft aller Ungläubigkeit. Enno, der mich im heruntergekommensten Rewe von ganz Berlin hochhebt und eine Kundin mit den Worten „gehen sie vor, wir umarmen uns gerade noch“, vorbeilässt. Enno, der sagt: „ich mag dich ja ein bisschen gerne“ und „ein bisschen zu gerne“ und „du sitzt immer da wie hingegossen“ und „du hast einen bemerkenswert tätigen Verstand. Der vor Freude meine Hände nimmt und sie schüttelt "du bist so-" und keine Worte findet. Enno, der sagt, dass er in Hannah Arendt verliebt sei, dass sie punk sei, dass ich sie mir anschauen müsse als Person, auch wenn ich die These der Banalität des Bösen ablehne. Wie lange ist es her, dass ich meinen kompletten Wortschatz im Gespräch mit jemandem ausschöpfen konnte, dass Wendungen aus meinem Mund fliegen, die ich schon vergessen hatte. Enno, der hört, was ich sage, der dem Gesagten kein Ego entgegenstellt, nicht übertrumpfen will. Enno, der nicht in Phrasen spricht. Der eigene Gedanken hat. Wir sind frei, Referenzen nie Angabe, nur Ausdruckshilfe. Wir zitieren Schlager und Kant durcheinander, gespickt mit Anzüglichkeiten. Enno, der seine Arme nach oben wirft, elegant, schwungvoll und mit seinen schmalen Händen Prosodie in die Luft malt. Wir sind verzückt von- ineinander.

 

Was kümmert mich da der feine Blutfaden, der ihm aus der Nase rinnt? Was kümmern mich krumme Geschäfte? Was kümmern mich Konventionen und Zukunftsaussichten? Was kümmert mich, was Leute sagen, die hinter den Drogen den Einzelnen, der er ist, nicht sehen können? Als wären Drogen mehr als eine Gewohnheit, der man nachgehen kann oder sie bleiben lassen. Als würde der Mensch zu dem, was er sich einverleibt und sei daran zu messen, Wiener Schnitzel, weißes Pulver, Rauchschwaden. Was kümmern mich vergangene Frauengeschichten heute?

 

Es kümmert mich gar nicht.

 

Wir sind zwei Einzelne. Wir drängen in ein Miteinander. Wir schauen uns nicht in den Lebenslauf, wir schauen uns ins Gesicht. Ich fahre mit den Fingerspitzen über seine eingebrochene Nase. Ich bin stocknüchtern. Und lache Tränen.


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