lambertikirche münster an einem nachmittag im januar

Gedankengedicht

von  Redux

meist erhasche ich einen zipfel ruhe

in den dämmrigen nischen sind kleine nester noch

aus weihrauch, kerzen flackern auf versteckten tischen,

vielleicht auch ein gemurmeltes vaterunser,

und das dunkel tut nicht weh, irgendwo von oben

stürzt sich ein heiligengesicht auf mich und man friert

im winter, und doch kann ich mich auskoppeln

für eine sekunde oder eine minute, bis

der lärm des tages und mein kreuz mich wieder hat,

jesus geht seinen kreuzweg wie er ihn vor

zweitausend jahren begann und vielleicht ist er

irgendwo angekommen, ich bin es nicht, ich nicht,

ich trete hinaus und das heute hat mich wieder,

ich weiß es wird einmal ein wunder geschehen,

aber nicht in diesem leben, in meinem leben,

ich weiß, er liebt mich und wenn es das ist,

was mich am leben erhält, dann ist es er, den ich liebe,

aber ich trete hinaus und der tag und die woche

haben mich wieder, der bettler aus osteuropa

vor galeria kaufhof, der so freundlich guten tag sagt,

und der asphalt, die autos, die werbeslogans,

dieses leben, das immer künstlicher wird, diese

künstliche freude, diese künstliche intelligenz,

diese sintfluten an apps, an klicks, an dauerreizen,

der hauptbahnhof, die menschenmassen wie kleine

roboter, verwundbarer wie frisch gefallener schnee,

diese warenhausketten, diese vermüllten seitenstraßen,

dieses zugepisste bahnhofsklo, diese anzeigetafeln,

dieses blitzlichtgewitter, das eigentlich nur nacht erzeugt,

alles umarmt mich und zielt auf mich und greift nach

dem in mir, das am verwundbarsten ist, das alles

verscheucht das wesentliche, es sucht mein herz

oder meine seele oder was immer in mir ist, was wahr

und lebendig ist, und setzt an mit einem radiergummi

um alle liebeserklärungen dieser welt zu tilgen,

und darum bin ich diese eine sekunde bei diesem

fernen gott, imagination, unsichtbar für alle zeiten,

bis irgendwann einmal ein wunder geschieht,

weil sonst nichts wäre, und alles umsonst

 



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Kommentare zu diesem Text


 willemswelt (16.01.24, 06:50)
kann deine Momente ,in denen du in einer Kirche ein wenig Stille suchst,fern der wie auch immer Hektik,obwohl ich mich von der Konfession längst entfernt habe-einen Morgengruß,Willem

 Redux meinte dazu am 17.01.24 um 07:55:
Danke, Wilhelm, fürs Nachempfinden...

 AchterZwerg (16.01.24, 17:55)
Lieber Herr Bert,

für mich ein wunderbar-ruhiges Gedicht, das sich der Hektik des erwachenden Jahrs erfolgreich entgegenstemmt.
Und ja, es gibt diese Orte, die uns verharren - und lächeln lassen; trotz allem.

 Redux antwortete darauf am 17.01.24 um 07:56:
Danke für den Kommentar. Und auch für die hilfreichen Hinweise...
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