Kurt hatte es sich gemütlich gemacht. Er saß auf seiner Couch, die Beine lagen übereinander geschlagen auf dem Tisch. In der linken Hand hielt er ein Glas mit Eistee, mit der rechten Hand kraulte er seinen Kater Hector, der neben ihm hockte und sein Wohlbefinden durch sonores Schnurren bekundete. Kurts Augen waren auf den Bildschirm gerichtet. Er verfolgte eine humorige Quizsendung. Zwar handelte es sich dabei um eine Wiederholung, aber er konnte die Sendung am Vorabend nur für zehn Minuten sehen, weil er fast eine Stunde mit seiner Freundin Vera telefoniert hatte. Eigentlich wollte sie heute schon nach Lübeck kommen und mit ihm gemeinsam die Semesterferien verbringen, aber ihre Mutter hatte sich über das Wochenende bei ihr zu Besuch angemeldet. Vera kam also erst am Montagabend.
Er blickte lächelnd auf ihr Foto, das neben dem Fernsehgerät auf der Kommode stand. Es kam ihm fast wie eine kleine Ewigkeit vor, dass er sie vor vier Wochen zum letzten Mal in seinen Armen hielt.
Das Telefon klingelte. Es stand noch von gestern Abend vor ihm auf dem überfüllten Tisch. Kurt nahm den Hörer ab und meldete sich. „Ja?“
„Ich bin's, Vera!“
„Vera!“, rief er mit leuchtenden Augen. „Ich habe gerade an dich gedacht!“
„Das war bestimmt Gedankenübertragung“, lachte sie. „Magst du Überraschungen?“
„Nur wenn es gute sind!“
„Ich komme doch schon heute zu dir!“
“Toll“, antwortete Kurt. „Aber was ist mit deiner Mutter? Hast du nicht gesagt, sie wollte dich über's Wochenende besuchen und du könntest deshalb erst am Montag kommen?“
„Meine Mutter fährt mit nach Lübeck. Sie will eine alte Freundin besuchen. Vorher will sie aber unbedingt sehen, wie ihr zukünftiger Schwiegersohn lebt!“
Kurt schluckte. Das war keine gute Überraschung. Nicht, dass er Veras Mutter nicht mochte, nein, sie war eine patente Frau und würde bestimmt eine wunderbare Schwiegermutter abgeben. Aber sie achtete penibel auf Sauberkeit in ihrer Wohnung, ganz im Gegensatz zu Kurt. Der Anblick seiner chaotischen Bude würde die gute Frau die Hände verzweifelt über den Kopf zusammenschlagen lassen.
„Kurtchen?“, fragte Vera. „Bist du noch dran?“
„Äh, ja“, antwortete er unsicher. „Ich habe eben nur kurz nachgedacht!“
„Es ist dir doch recht, dass meine Mutter mitkommt, oder?“
„Ja, ja, natürlich“, log Kurt. „Ich habe nur überlegt, was ich für euch kochen soll?“
„Du wolltest für uns am Montag eine Paella machen. Koch doch einfach etwas mehr. Mutter mag die spanische Küche!“
„Das ist eine gute Idee!“
„Wir nehmen den Zug um 14 Uhr 10 und werden ungefähr um 18 Uhr 30 bei dir sein – vorausgesetzt die Bahn ist pünktlich. Ich liebe dich, Küsschen.“
„Ich liebe dich auch!“, antwortete Kurt. Er legte auf und warf einen panischen Blick auf die Wanduhr. Es war 12 Uhr 16. Die Zeit drängte.
Er sprang auf. Hector erschrak und rannte mauzend in das Schlafzimmer, wo er unter dem Bett verschwand und ängstlich hervorlugte. Kurt lief nervös durch die Wohnung. So viel musste noch getan werden. Aufräumen, Staub wischen, Staub saugen, duschen, saubere Klamotten anziehen, das Bett frisch beziehen, das Katzenklo in Ordnung bringen, einkaufen, kochen, Tisch decken, Blumen besorgen. Ihm schwirrte der Kopf.
Als er das dritte Mal über die hochstehende Teppichecke stolperte, was ihn normalerweise nicht störte, lief er wütend in die Küche. Er riss die untere Schublade des Küchenschrankes auf, in der er das Werkzeug aufbewahrte, nahm einige Nägel und den Hammer heraus, ging zurück in das Wohnzimmer und nagelte fluchend die Teppichecke am Holzfußboden fest.
Er starrte Veras Foto an. „Warum tust du mir das an?“, fragte er laut. „Du hättest am Montag kommen sollen ... ohne deine Mutter!“
Zuerst muss ich einkaufen gehen, dachte er und schlüpfte in seine Jacke. Der kleine Einkaufsladen schloss pünktlich um 13:00 Uhr.
Hector schlich sich vorsichtig an die nun flach am Boden liegende Teppichecke heran und beschnupperte sie ausgiebig. Hier war eine Veränderung, die gründlich untersucht werden musste.
Kurt rannte die Stufen hinunter, blieb plötzlich zwischen Parterre und erster Etage stehen und kehrte wieder um. Er hatte sein Portemonnaie auf der Anrichte im Flur liegen lassen.
Der Supermarkt war zum Brechen voll. Zum ersten Mal verfluchte Kurt seine Entscheidung, an den Stadtrand gezogen zu sein. In der City hatten die Geschäfte am Samstag länger geöffnet.
Er reihte sich erschöpft zum vierten Mal in die Warteschlange ein und hoffte, nun wirklich alle Zutaten für die Paella und die anderen Lebensmittel für das Wochenende in den Einkaufswagen gelegt zu haben.
Die Dame an der Kasse schaute ihn mit großen Augen an. „Mein Gott, Herr Schröder,“ sagte sie verwundert. „So viel haben Sie noch nie bei uns eingekauft. Das wird ja ein richtiges Schlemmerwochenende, was?“
Kurt nickte nur und packte die Lebensmittel in zwei Plastiktüten. Er bezahlte, wünschte einen schönen Feierabend und lief schnell zum Blumengeschäft an der Ecke. Die Verkäuferin wollte die Ladentür gerade abschließen, aber Kurts eindringliche Bitte und sein flehender Blick blieben bei der jungen Frau nicht ohne Wirkung. Sie ließ ihn herein. Er kaufte einen großen, bunten Strauß für Veras Mutter und eine langstielige, dunkelrote Rose, die Vera zur Begrüßung bekommen sollte.
„Hallo, junger Mann.“ rief die Verkäuferin. „Haben Sie nicht etwas vergessen...?“
Kurt hatte die Ladentür bereits geöffnet und drehte sich verdutzt um. Die Frau deutete auf die beiden prallen Einkaufstüten, die vor dem Tresen standen. Kurt verdrehte verzweifelt die Augen. „Entschuldigung“, sagte er verlegen. „Ich bin wohl ein wenig durcheinander. Meine Freundin kommt nämlich heute, müssen Sie wissen. Eigentlich habe ich sie erst am Montagabend erwartet, und jetzt bringt sie auch noch ihre Mutter mit...!“
Die Verkäuferin lächelte verständnisvoll. Sie reichte ihm die beiden Tüten, klemmte die Blumen unter seinen linken Arm und hielt ihm die Tür auf.
Was für ein verrückter Tag, dachte er, wie soll der nur enden?
Hector versuchte noch immer vergeblich, mit seinen Pfoten unter die festgenagelte Teppichecke zu kommen. Er war damit so beschäftigt, dass er nicht zu Kurts Begrüßung angelaufen kam, wie er es üblicherweise tat. Er schaute nur für einen Augenblick in seine Richtung und widmete seine Aufmerksamkeit wieder der Teppichecke.
„Du vergnügungssüchtiger Kerl!“, rief ihm Kurt mit gespielter Entrüstung zu. „Ich weiß nicht mehr, wo mir der Kopf steht und du amüsierst dich!“
Er stellte die Tüten vor dem Küchenschrank ab. Die Blumen legte er in das Abwaschbecken und ließ etwas Wasser einlaufen.
Sein Blick ging zur Küchenuhr. Die Zeit schien zu rasen. Schnell packte er die Tüten aus. Bis auf den spanischen Rotwein und die Zutaten, die für die Paella gebraucht wurden, verstaute er die Einkäufe im Kühlschrank und in der Vorratskammer.
Eigentlich war er davon überzeugt, alles Notwendige eingekauft zu haben. Schließlich hatte er sogar an die 200 Gramm Schabefleisch gedacht, das der Kater zur Feier des Tages am Abend bekommen sollte. Trotzdem beschlich ihn dieses zweifelnde Gefühl, das sich leise aus dem Hinterkopf heraus stets dann zu Wort meldete (Na...?), während im übrigen Kopf bereits die Weichen für die nächste Aktion gestellt wurden. Seine Augen wanderten nervös über die Paella Zutaten. Alles da, dachte er erleichtert. Die restlichen Zutaten, wie Öl, Reis und Zwiebeln, gehörten zu den Grundnahrungsmitteln - und die hatte er normalerweise immer im Hause. Die Wirklichkeit sah gerade heute anders aus.
Der Öldose trotzte er durch kräftiges Drücken und Schütteln gerade noch einen kläglichen halben Teelöffel Öl ab, die vermeintlich noch gut gefüllte Reispackung entpuppte sich als leere Papphülle und im Korb auf dem Fensterbrett lagen lediglich zwei mickrige Zwiebelchen, die bereits völlig vertrocknet waren und austrieben.
„Verdammt“, schimpfte er. „Warum, zum Teufel, schreibe ich keinen Einkaufszettel wie meine Mutter? Die vergisst nie etwas!“
Nun war guter Rat teuer. Der Supermarkt hatte geschlossen und für eine Busfahrt ins Zentrum fehlte die Zeit. Blieb nur noch Freund und Kommilitone Sascha, der in ersten Stock des Hauses wohnte.
Kurt schickte ein Stoßgebet gen Himmel. Er rannte die Treppe hinunter und betätigte den Klingelknopf. Keine Reaktion. Erst als er den Knopf mehrmals in kurzen Intervallen drückte, konnte er Geräusche hören. Ein Auge blinzelte kurz durch den Spion, dann wurde die Tür aufgezogen.
Sascha war nackt. Sein langes Haar hing wirr vor seinem Gesicht herum. Er gähnte laut und kratzte sich ungeniert zwischen den Beinen. „Sonst geht es dir gut, was?“, brummte er. „Warum holst du mich mitten in der Nacht aus dem Bett? Ist die Uni endlich abgebrannt?“
Kurt sah ihn verwundert an. „Mitten in der Nacht? Es ist Mittag!“ sagte er.
„Für dich vielleicht.“ erwiderte Sascha. „Ich bin erst heute Früh nach Hause gekommen. Ich habe feuchtfröhlich den Ferienbeginn mit Louise gefeiert. Also, was willst du mitten in der Nacht von mir?“
„Vera kommt“, antwortete Kurt. „Sie bringt ihre Mutter mit!“
Sascha blinzelte ihn aus müden Augen an. „Toll! Wirklich toll! Und das hättest du mir nicht später erzählen können?“
„Mir fehlen ein paar Kleinigkeiten zum Kochen.“
Sascha deutete mit dem Daumen nach hinten. „Du weißt, wo die Küche ist. Nimm dir, was du brauchst.“
Er machte kehrt und ging voraus. Seine nackten Füße klatschten auf dem rohen Holzfußboden. Kurt ließ die Tür ins Schloss fallen und folgte ihm. Sascha bog ins Schlafzimmer ab. „Gute Nacht!“, brummte er. „...und mach keine Unordnung!“
Saschas letzte Bemerkung sollte vermutlich ein Scherz sein. Sein Spitzname lautete CHAOS und seine Küche befand sich in einem schrecklicheren Zustand, als es Kurts Küche jemals war. Alles was Sascha an Pfannen, Töpfen, Schüsseln, Tellern, Tassen und Bestecken besaß, befand sich außerhalb der Schränke, Schubfächer und Kommoden, ebenso wie die Lebensmittel, die keiner Kühlung bedurften. So ähnlich sah es auch in den anderen Räumen aus. Sascha erklärte es einmal damit, dass er nichts suchen müsse, weil er so alles überblicken konnte.
Kurt fand statt Olivenöl und Naturreis nur billiges Sonnenblumenöl und Kochbeutelreis. In der Not frisst der Teufel Fliegen, dachte er. Wenigstens waren die Zwiebeln noch Zwiebeln.
Bevor er die Wohnung verließ, warf er einen kurzen Blick in Saschas Schlafzimmer. Der Freund lag auf dem Bauch zwischen zerwühlten Kissen und Bezügen und schnarchte. Erst jetzt bemerkte Kurt einen weiteren nackten Hintern. Es war das einzige Körperteil, den er vom anderen Schläfer zu sehen bekam und der gehörte zweifellos einer jungen Dame. Hübscher Arsch, dachte er.
Hector kam ihm sofort maunzend entgegen, als er die Tür zu seiner Wohnung aufschloss. Kurt streichelte ihn nur kurz. „Ich habe jetzt leider keine Zeit für längere Schmusereien, Dicker. Die Arbeit wartet.“
Er lief in die Küche, stellte die Lebensmittel aus Saschas Küche zu den anderen Paella Zutaten und nahm das Geschirrtuch vom Haken. Er wischte Staub. Staubwischen gehörte nicht zu den Tätigkeiten, die er beherrschte. Er tat es einfach viel zu selten.
Kurt beschränkte sich darauf, nur die Flächen abzustauben, die nicht übersehen werden konnten. Als er zufällig entdeckte, dass man den Schmutz einfacher und effektiver von den zu reinigenden Flächen entfernen konnte, wenn man die darauf stehenden Gegenstände anhob, begann er noch einmal von vorn. Prompt rutschte ihm das kleine dünne Glasschälchen mit den Sahnebonbons aus den Fingern, fiel direkt neben dem Teppich auf den Holzfußboden und zersprang in unzählige Stücke. Fluchend beugte er sich hinunter und suchte die Sahnebonbons zusammen. Anschließend hob er vorsichtig die Glasscherben auf. Ausgerechnet an der letzten Scherbe schnitt er sich in den rechten Zeigefinger. „Verdammt“, fluchte er wieder und blickte dabei Veras Bild an. „Das alles ertrage ich nur, weil ich dich liebe!“
Mit einem dicken Verband um Hand und Finger sammelte er die herumliegenden Kleidungsstücke ein. Was nicht in den Wäschekorb passte, wurde in einen großen, blauen Müllsack gestopft und hinter dem Vorhang im Flur versteckt! Das dreckige Geschirr und die unzähligen Zeitungen landeten im Besenschrank.
Ohne größere Probleme brachte er das ungeliebte Staubsaugen zu Ende. Sogar die restlichen, winzigen Glassplitter waren vom Boden verschwunden.
Als er das Bett bezog, stieß er mit dem linken kleinen Zeh gegen ein Stuhlbein, was ihn zu einem lauten Feixtanz und Hector zur Flucht veranlasste. Er schimpfte auf den alten Stuhl, der so ungünstig im Schlafzimmer platziert stand und dachte daran, das Möbelstück zu zerhacken oder aus dem Fenster zu werfen.
Mit zusammengebissenen Zähnen stopfte er das letzte Kissen in den frischen Bezug und humpelte dann zum Badezimmer. Er stellte den linken Fuß in das Waschbecken und stieß einen tiefen Seufzer aus, als das kalte Wasser über den schmerzenden, pochenden Zeh lief. Er blickte auf die Armbanduhr. Die Zeit schien wirklich wie im Fluge zu vergehen.
Er zog sich aus und ging unter die Dusche. Es bereitete ihm einige Schwierigkeiten die Balance zu halten. Während er auf einem Bein stand und den Fuß des anderen Beines wusch, streckte er die dick verbundene Hand weit aus der Dusche hinaus, damit sie nicht nass werden konnte. Die Aufgabe strengte ihn dermaßen an, dass er ächzte und prustete, statt wie üblich falsch zu singen.
Plötzlich begann er zu schwanken, hüpfte auf einem Bein auf der Stelle und verlor das Gleichgewicht. Instinktiv griff er mit beiden Händen an die Duschhalterung, riss sie samt Dübeln aus dem maroden Altbaumauerwerk, fiel rücklings in den Duschvorhang und krachte mit dem pochenden Zeh gegen die Seifenablage. Schreiend stürzte er, eingewickelt im Duschvorhang, dem harten Fliesenboden entgegen und knallte mit dem linken Ellenbogen zuerst auf. Leise wimmernd blieb er liegen und dachte verzweifelt darüber nach, welchen seiner lädierten Körperteile er zuerst streicheln sollte.
Hector lugte neugierig um die Ecke. Verstört blickte er auf das Chaos, brachte mauzend seinen Unwillen zum Ausdruck und verschwand wieder.
15 Minuten später verließ Kurt das Bad. Linker Fuß und linker Ellenbogen waren dick bandagiert. Den Verband der rechten Hand hatte er mit dem Fön getrocknet.
Während er im Schlafzimmer saubere Kleidung anzog, überlegte er, wie der Schaden im Badezimmer schnell behoben werden konnte. Der Duschvorhang war nur aus den Halteringen gerissen worden, aber die Duschhalterung musste an der Wand befestigt oder die Löcher mussten gestopft werden. In seinem Werkzeugkoffer lagen zwar eine Bohrmaschine, passende Dübel und Schrauben, aber eine alarmierende Stimme in seinem Hinterkopf riet ihm, jegliche Reparaturpläne am heutigen Tage fallen zu lassen.
Wenig später hing der Duschvorhang wieder an den Ringen, die Löcher in der Wand waren mit Pril-Blumenklebebildern verdeckt, die Dusche lag über der Seifenablage und die Duschhalterung unter der Badewanne. Leidlich zufrieden humpelte Kurt in die Küche.
Hector saß auf der Fensterbank. Er staunte kurz über seine seltsame Fortbewegungsart und schaute dann wieder interessiert aus dem Fenster auf die Straße. Das konnte er manchmal stundenlang machen.
Kurt stellte die Blumen in eine Vase, die Rose fand in einer Colaflasche vorübergehend einen Platz. Die Kaffeemaschine blubberte, das Wasser für die Fleischbrühe und den Kochbeutelreis brodelte.
Kurt war ein guter Koch. Das wurde ihm jedenfalls von den Leuten bestätigt, die schon bei ihm gegessen hatten. Sein Problem war die richtige Portionierung, besonders dann, wenn er nur für sich allein das Essen bereitete. Er kochte immer für zwei Tage, aß aber dann drei Tage davon und musste schließlich noch zwei Portionen einfrieren.
Wieder richtete er den Blick zur Uhr. Jetzt war etwas Zeit, um den Tisch zu decken.
Er besaß kein Service, aber er stellte das Geschirr so zusammen, dass es zumindest farblich zueinander passte. In der Mitte des Tisches postierte er den silbernen Kerzenständer, den er vor einer Woche auf dem Trödelmarkt erstanden hatte. Bestückt waren die beiden Kerzenhalter mit verschiedenfarbigen Stummeln.
Kurt humpelte in die Küche zurück. In der hintersten Schublade des Küchenschrankes bewahrte er praktische Dinge auf, die man zwar nicht jeden Tag brauchte, aber hin und wieder benötigte: Streichhölzer, Gummis, eine Ersatz-Spielzeugmaus für den Kater, Wäscheleine, Brotpapier, Glühbirnen und Kerzen. Kerzen fand er nicht darin. Was nun?
Sascha war völlig unromantisch und unpraktisch. Ihn brauchte Kurt erst gar nicht nach Kerzen zu fragen. Sicherlich kann Frau Wittgenstoes aushelfen, dachte er. Die alte Dame wohnte in der Wohnung gegenüber. Kurt hatte ihr schon manchen Gefallen getan. Nachbarschaftshilfe.
Er nahm die Pfanne vom Herd - das Gemüse durfte nicht zu weich werden – und lief zur Tür. Er hoffte, dass Frau Wittgenstoes zu Hause war. Zwei oder dreimal in der Woche wurde sie von einer Freundin zum Kaffeeklatsch abgeholt. Er drückte den Klingelknopf. Gleichzeitig hörte er hinter sich ein Geräusch, das ihm die Nackenhaare zu Berge stehen ließ. Die Wohnungstür war ins Schloss gefallen.
Frau Wittgenstoes öffnete lächelnd. „Ach, Herr Schröder. Nett, dass ich Sie wieder einmal sehe! Wie geht es denn?“ Sie stutzte und blickte ihn von oben bis unten an. „Um Himmels Willen, was haben Sie denn angestellt? Soll ich einen Krankenwagen rufen?“
Kurt schüttelte den Kopf. „Alles halb so schlimm, Frau Wittgenstoes“, antwortete er und wedelte aufgeregt mit den Armen. „Ich habe nur geduscht und die Wohnung aufgeräumt. Wissen Sie, meine Freundin Vera kommt. Sie bringt ihre Mutter mit. In einer halben Stunde könnten sie hier sein. Das Essen steht auf dem Herd und der Tisch ist gedeckt. Könnten Sie mir eventuell mit zwei hübschen Kerzen aushelfen ... und mit einem Dietrich?“
Frau Wittgenstoes tätschelte Kurts Wangen. „Nun beruhigen Sie sich erst einmal“, sagte sie. „Kerzen kann ich Ihnen geben. Aber wozu brauchen Sie denn einen Dietrich?“
Kurt deutete mit dem Kopf nach hinten. „Die Wohnungstür ist ins Schloss gefallen und der verdammte Schlüssel liegt auf der Anrichte im Flur!“
Die Nachbarin nickte. „Warten Sie hier!“ sagte sie knapp.
Kurt humpelte nervös umher und dachte an Hauswart Schütze, den er wegen der Tür um Hilfe bitten könnte. Er schüttelte den Kopf. Ihm war eingefallen, dass der gute Mann gerade seinen Jahresurlaub auf Mallorca verbrachte. Und Sascha? Kurt kicherte verzweifelt. Sascha hatte sogar nüchtern Schwierigkeiten seine eigene Tür mit dem richtigen Schlüssel zu öffnen.
Frau Wittgenstoes drückte ihm zwei wunderschöne hellblaue Kerzen in die Hand, ging an ihm vorbei und machte sich an seiner Wohnungstür zu schaffen. Einige Sekunden später war die Tür offen.
Kurt bekam große Augen. „Jetzt bin ich aber wirklich von den Socken, Frau Wittgenstoes“, sagte er.
Die Nachbarin lächelte verschmitzt. „Wissen Sie, Herr Schröder, das ist mir auch schon passiert“, erklärte sie und hielt eine Telefonkarte hoch. „Mein Enkel hat mir gezeigt, wie man damit die Tür aufmacht. Das ist ganz einfach bei diesen alten Schlössern - solange sie nicht richtig abgeschlossen sind.“
„Ich habe eine Bankkarte!“
Frau Wittgenstoes schüttelte den Kopf. „Die würde ich an Ihrer Stelle nicht benutzen. Sie könnte beschädigt werden und dann haben Sie Probleme am Geldautomaten!“
„Sie sind ein Engel“, sagte Kurt. „Ich werde die nächsten Tage mal schauen, ob ich nicht noch eine alte Telefonkarte finde. Dann kann ich bei Ihnen in die Lehre gehen.“ Er nahm die Nachbarin in die Arme und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.
Was für ein verrückter Tag, dachte er, als er wieder in der Küche stand. Die Paella war fast fertig. Sie musste jetzt nur noch auf kleiner Flamme ziehen.
Kurt schaute auf die Uhr. Er hatte es tatsächlich geschafft. Die Wohnung blitzte wie schon lange nicht mehr. Jetzt konnte Vera's Mutter kommen. Er legte die Rose und den Blumenstrauß auf die Anrichte im Flur, steckte die Kerzen in die Halterungen und ließ sich erschöpft auf die Couch fallen. Hector sprang neben ihn und schmiegte seinen Körper gegen seinen Oberschenkel. Kurt streichelte ihn.
Das Schrillen der Türklingel ließ ihn zusammenzucken. Ich muss eingenickt sein, dachte er und sprang auf. Wieder klingelte es. Kurt humpelte in den Flur. Er nahm die Blumen in die verbundene Hand, atmete tief durch und öffnete die Tür.
Vera strahlte ihn an. „Da bin ich!“, sagte sie und fiel ihm um den Hals.
Kurt schaute ihr über die Schulter. „Und wo...wo ist deine Mutter?“, fragte er unsicher.
Vera schob ihn lächelnd in die Wohnung und schloss die Tür mit einem sanften Tritt. Kurt legte die zerdrückten Blumen zurück auf die Anrichte.
„Meine Mutter kommt nicht“, sagte Vera und knabberte an seinem Ohrläppchen. „Es war nur eine Finte!“
„Eine Finte? Ich verstehe nicht!“
„Ich liebe dich, das weißt du. Aber jedes Mal, wenn ich bei dir war, sah deine Wohnung aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Ich kam zu Besuch und musste immer erst saubermachen - das hat mich geärgert. Ich habe nie etwas gesagt und hoffte, dass es irgendwann Klick in deinem Kopf macht. Es hat leider nicht geklickt. Was blieb mir also übrig, als zu einer kleinen List zu greifen? Schließlich will ich die Semesterferien bei dir verbringen - aber nicht wieder diejenige sein, die erst einmal klar Schiff in deiner Wohnung machen muss!“
© Sigrun Al-Badri/ 2020 / 2024 überarbeitet