Die Umkehrung
Essay zum Thema Literatur
von Hans
Die Umkehrung – eine Plauderei anlässlich des 100sten Todestages von Franz Kafka
1. Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich
„In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat...“, so beginnt „Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich“. Ein König hat mehrere Töchter, die sind sehr schön.
Die jüngste von ihnen, die so schön ist, dass selbst die Sonne erstaunt,
wenn sie ihr ins Gesicht scheint, verliert beim Spiel den goldenen Ball,
ihr liebstes Spielzeug. Dieses versinkt in einem tiefen Brunnen und erscheint unerreichbar. Ihr Jammern und Weinen hört ein Frosch, der ihr Hilfe anbietet, falls sie ihn zu ihrem Gesellen macht, der Tisch und Bett mit ihr teilt, was sie spontan verspricht.
Im Besitz des Balls vergisst sie Versprechen und Frosch und eilt ohne ihn zurück zum Palast. Am nächsten Tag klopft dieser an ihre Tür und fordert die Einlösung des Versprechens. Auch ihr Vater, der König, besteht darauf, nachdem er die Vorgeschichte erfahren hat. Voller Ekel über seine Nähe wirft sie ihn schließlich, bevor er in ihr Bettchen kriecht, angeekelt an die Wand. Vor ihr steht ein Prinz mit schönen Augen, den einst eine böse Hexe in einen Frosch verwandelte. Nach dem Wunsch des königlichen Vaters werden sie ein Paar, das am nächsten Tag von einer prachtvollen Kutsche in das Schloss des verwandelten Frosch geleitet wird. Die drei eisernen Ringe des treuen Heinrichs, der seinen Herrn nach hause geleitet, brechen auf der Heimfahrt mit lautem Getöse.
Kein Wort über das Verhalten der schönen Prinzessin!
Nicht nur hat sie ihr Versprechen gebrochen, sondern den armen Frosch keinesfalls in liebevoller Absicht an die Wand geschleudert. Trotzdem überlebt er die Verwandlung unverletzt und ist keineswegs böse auf die Braut. Sie selbst äußert weder Bedauern noch eine Entschuldigung.
Die Verwandlung ist eine Erlösung, die durch nichts getrübt wird.
Auch der treue Heinrich stellt keine Fragen.
2.Schwesternliebe
In dem Märchen Brüderchen und Schwesterchen hält die Schwester zu ihrem Bruder, auch nachdem er in ein Reh verzaubert ist. Bis zur Rückverwandlung und darüber hinaus bleibt sie bei ihm und hält ihm die Treue. So auch bei Hänsel und Gretel, ohne dass eine Verwandlung statt findet.
In Die sechs Schwäne geht die Schwester bis zum Äußersten um ihre Brüder zu erlösen, die von der Stiefmutter, einer bösen Hexe, zu Schwänen verzaubert wurden. Sechs Jahre spricht und lacht sie nicht, sondern näht für sie Hemdchen aus Strohblumen, womit sie ihre Menschengestalt wieder gewinnen. Die bitterböse Schwiegermutter raubt ihre Kinder und bezichtigt sie des Kannibalismus. Erst im letzten Moment – sie steht schon auf dem Scheiterhaufen – wird sie, wie es sich für ein Märchen gehört, gerettet. Abgesehen von einem fehlenden Ärmel...
3. Die Verwandlung
Gregor Samsa ergeht es umgekehrt. Als er erwacht, ist er in ein unförmiges Ungeziefer* verwandelt . Warum? Keine Antwort auf diese Kinderfrage! Statt dessen erfahren wir, wie er mit dieser Situation umgeht. Zunächst glaubt er an einen Alptraum, der sein Bewusstsein umfangen hält. Die letzten Tage – er arbeitet als Handlungsreisender – waren anstrengend. Kein Wunder, dass er nicht gleich wach wird. Doch er spürt das veränderte Körpergefühl und ihm wird seine desolate Lage klar. Wie kann und soll er sich gegenüber seiner Familie verhalten, die zunehmend beunruhigt und ungehalten reagiert. Wie gegenüber dem Prokuristen, der ihn in seiner Wohnung auf/heimsucht und herausfinden will, warum er nicht zur Arbeit erscheint?
Ihm gelingen keine Worte. Auf Hilfe von den Eltern hofft er vergebens. Flehentlich ruft er nach der Mutter, die sich von ihm abwendet.
Der Prokurist flieht, Stock, Hut und Überzieher zurück lassend, als Gregor aus seinem Zimmer hervorkriecht
Der Vater treibt ihn mit dem Stock des Prokuristen zurück.
Aus den schmarotzenden Familienangehörigen, die von Gregor versorgt wurden, sind im doppelten Sinn des Wortes Täter geworden. Eine Umkehrung, die ihn das Leben kostet. Seine Schwester Grete formuliert das in gnadenloser Brutalität:
„Weg muß es“ rief die Schwester, „das ist das einzige Mittel, Vater. Du mußt bloß den Gedanken loszuwerden suchen, daß es Gregor ist. Daß wir es solange geglaubt haben, das ist ja unser eigentliches Unglück. Aber wie kann es denn Gregor sein? Wenn es Gregor wäre, er hätte längst eingesehen, daß ein Zusammenleben von Menschen mit einem solchen Tier nicht möglich ist, und wäre freiwillig fortgegangen. ( S. 80)
Das ist sein Todesurteil
Er verelendet. Sein Sterben bedeutet Erlösung, aber umgekehrt als beim Froschkönig. Es beendet seine Leidenszeit, und die Familie ist ihn endlich los.
Hätte es Rettung gegeben? Worin hätte sie bestanden?
Weder ein Kuss noch ein angeekelter Wurf an die Wand sind vorstellbar.
Diese Zeiten sind für immer vorbei.
Die Bedienerin erklärt sich schließlich bereit „das Zeug von nebenan“ zu beseitigen.
Die Geschichte endet mit einer Ausfahrt. Vater, Mutter und Schwester Grete fahren mit der Elektrischen „ins Freie vor die Stadt.“ „Bei näherer Betrachtung “ sind ihre Aussichten für die Zukunft „überaus günstig und besonders für später vielversprechend.“
Gregor erwähnen sie mit keinem Wort mehr. Bedauern, Mitleid oder gar Trauer stellen sich nicht ein.
*Katja Lange-Müller wendet sich in der Süddeutschen Zeitung vom 25.3.2024 unter der Überschrift „Das war kein Käfer“ gegen die verbreitete Meinung, dass es sich dabei um einen Mistkäfer handele. Ihrer Meinung nach deuten alle Hinweise in der Geschichte auf „eine Kakerlake, eine Schabe, ein Cockroach“ hin.
So verändert sich das Motiv der Verwandlung. In den Märchen rettet sie die – meist von einer bösen Hexe – Verzauberten und führt zum happy end. Ernst Bloch, der Philosoph und Märchenkenner, durchschaut dessen versöhnliche Funktion und verteidigt es dennoch. Bei Franz Kafka kommt es zur Katastrophe. Der Held stirbt, und das Leben geht weiter.
Der übliche Märchenschlusssatz „und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“ würde bei „Die Verwandlung“ unpassend oder sogar zynisch wirken. Die Verwandlung ist kein Märchen.
Psychologische Interpretationen erweisen sich oft als produktiv. Das Unbewußte gewinnt die Oberhand und sprengt den alltäglichen Rahmen. Ängste und Wünsche werden wirklich und diktieren das Geschehen. Die Verwandlung liest sich so als Psychogramm der Familie Samsa.
Auf den katastrophalen Einbruch des schrecklich Unerwarteten, die radikale Ent/Verfremdung eines Familienangehörigen reagiert sie mit Abscheu und Abwehr. Der Verwandelte gehört nicht mehr dazu. Er muss weg, notfalls mit Gewalt beseitigt werden. Dabei soll jedes Aufsehen vermieden werden. Das ist gar nicht so einfach, denn die Nachbarn (die nicht erwähnt werden), der Prokurist und die Zimmerherrn sind wachsam.
Eine schwierige Lage.
Es fällt auf: Frauen im Märchen werden mitunter verzaubert, aber nicht verwandelt. Sie sind – das gilt vor allem für Schwestern – die treuen und aufopferungsvollen Begleiter und Betreuer. Bei Kafka trifft auch dies nicht zu.
Der Komiker Otto Waalkes setzt sich humoristisch mit Grimms Märchen auseinander. Zum Froschkönig lautet seine Version Susi Sorglos und der Föhn. Beim Föhnen im Bade spricht der Föhn Susi an und behauptet, er verwandle sich in einen Prinzen, falls Susi ihn küsst. Als sie das voller Vorfreude macht, verwandelt sich der Föhn in ein Handduschgerät, denn er hatte gelogen. Das ist albern und zeigt doch einen Aspekt der Verwandlungen.
Folgende Scherzgeschichte einer Verwandlungsverweigerung ist in Umlauf:
Es war einmal eine vielbeschäftigte Managerin, deren Terminkalender aus allen Nähten platzte. Nachdem sie ihr Auto abgestellt und die wenigen Schritte zu ihrer Wohnung zurücklegte, sprach sie ein Frosch an mit den Worten: „Hallo, wenn du mich küsst, verwandele ich mich in einen schönen Prinzen.“ Darauf hin nahm sie ihn auf die Hand, trug ihn in ihre Wohnung und setzte ihn in ein Glas, das sie vom Keller holte.
So verstrichen einige Tage. Mit der Zeit wurde der Frosch ungeduldig und wiederholte sein Anliegen. Darauf entgegnete die Managerin: „Für eine Beziehung zu einem Prinzen habe ich weder Lust noch Zeit, aber ein sprechender Frosch, das ist doch was.“
Wie erzähle ich meiner Enkelin die Geschichte von der Verwandlung?
Etwa so:
Es war einmal ein Mann, der viel arbeitete. Der hieß Gregor Samsa. Eines Tages wachte er auf und stellte verwundert fest, dass er in ein riesiges Insekt verwandelt war. Ihm war klar, dass seine Familie – er lebte zusammen mit den Eltern und der jüngeren Schwester – kein Verständnis für diesen Vorgang zeigen würde. Nach ein paar zaghaften Versuchen stellte er fest, dass er fliegen konnte. Er drehte ein paar Runden in seinem Zimmer und fühlte sich dabei zunehmend leicht und frei. Da es Sommer war, stand das Fenster weit offen, damit die erfrischende Nachtluft hereinströmen konnte. Gregor zögerte nicht lange, sondern flog vergnügt und abenteuerlustig hinaus in die weite Welt. Und wenn er nicht gestorben ist, dann fliegt er da noch heute.