Wir leben ja noch

Text

von  autoralexanderschwarz

„Warum sind denn heutzutage eigentlich alle so primitiv?“, fragte Herrn K. die kleine Tochter des Wirtes, „und müssten“, fragte sie, „durch diese ganze Technik nicht alle noch viel klüger sein?“


„So scheint es wohl auf den ersten Blick“, antwortete Herr K. und erzählte dann folgende Geschichte:


„Es war einmal ein Volk, das lebte in Frieden, Wohlstand und Freiheit. Natürlich war es nicht perfekt, so wie nichts auf der Welt perfekt ist, es hatte schlimme Kriege und noch schlimmere Verbrechen überwunden, aber es hatte auch seine Vergangenheit aufgearbeitet und sich eine freiheitliche, demokratische Grundordnung gegeben. Die Menschen kamen ganz gut miteinander zurecht und wenn sie mal Streit hatten, riefen sie die Polizei, die den Konflikt dann schlichtete. Die Menschen lasen Zeitung, hörten Radio oder sahen fern und diskutierten dann am Bahnsteig oder auf der Arbeit über das, was sie Neues erfahren hatten. Andere hielten sich eher zurück, aber taten dafür etwas, das in der heutigen Zeit recht selten geworden ist. Sie dachten nämlich über das nach, was sie gehört hatten.“


„Das ist aber eine langweilige Geschichte“, sagte die Tochter des Wirtes, „und du verwendest auch so lange Sätze und so komplizierte Wörter, dass man dich gar nicht richtig versteht.“


„Kurzum“, fuhr Herr K. fort, „auch wenn es dort wohl nicht immer gerecht zuging, kann man doch sagen, dass das Volk sehr glücklich war, weil das Leben so sicher und bequem war wie sonst nahezu nirgendwo auf der Welt. Und dann“, hier machte er eine kleine Pause, „dann erfand man das Internet und dann diese kleinen Geräte, in denen man es mit sich herumtragen konnte und weil das Internet jede Frage beantworten konnte, gewöhnten die Menschen sich daran, nicht mehr selbst zu denken, sondern einfach das Internet zu fragen. Das ging viel schneller und weil das Internet lernte, was die Menschen mochten (und immer größer und größer wurde), sagte es ihnen bald nur noch das, was sie hören wollten. Durch die Verknüpfung von Soziologie, Individualpsychologie und Algorithmik wurde es dabei immer besser. So kam es, dass die Menschen immer weniger nachdachten und weil sie so wenig nachdachten, hatten sie schnell auch nicht mehr so viel zu sagen und darum sprachen sie weniger miteinander und weil sie weniger miteinander sprachen, begegneten sie sich immer seltener und weil sie sich seltener begegneten, verstanden sie einander irgendwann nicht mehr und ihnen wurde langweilig, weil sie eigentlich die ganze Zeit alleine waren. Darum erfanden sie kleine Spiele, die die Zeit vertreiben und betrachteten stundenlang Fotos und kurze Videos auf den kleinen Maschinen. Am liebsten mochten sie dabei Tiere, die sich so verhielten, als wären sie Menschen.


Irgendwann aber war es soweit, dass die meisten Menschen einen Großteil des Tages damit verbrachten, Dinge zu rezipieren, die sie in der nächsten Woche bereits vollständig vergessen hatten. Dabei verlernten sie, wie man über komplizierte Dinge nachdenkt, wie man sich einer Wahrheit annähert und weil die Welt aber kompliziert war und sie auch gerne eine Meinung haben wollten, fragten sie nun noch häufiger das Internet, das den einen erzählte, dass sie angreifen, den anderen, dass sie sich verteidigen müssten. So kam es, dass viele Menschen Angst vor den anderen Menschen hatten und sich irgendwann nicht mehr trauten, die Dinge zu sagen, die sie dachten.

Stattdessen erfanden sie sich Feindbilder und verbindende Elemente, um in einer erkalteten kapitalistischen Gesellschaft die Vereinzelung zu überwinden und so etwas wie Sinn zu empfinden.

Dies lebten sie ihren Kindern vor und als diese schließlich älter und erwachsen waren, hatten die meisten schon vergessen, wie komplex die Welt, der Mensch oder die Gerechtigkeit ist und wie stark man sie vereinfachen musste, damit sie auf diese kleinen Geräte passten.“


„Und wie ging die Geschichte weiter?“, fragte die kleine Tochter des Wirts schließlich, als sich Herr K. bereits abwendete.


„Wir leben ja noch“, sagte er im Weggehen, „wir leben ja noch.“




Anmerkung von autoralexanderschwarz:

Die Geschichte ist – zumindest zu Beginn – im Stil von Brechts „Geschichten von Herrn Keuner“ geschrieben.

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Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (17.06.24, 16:31)
Das Manko der Geschichte besteht darin, daß Herrn K.s Sprache wirklich nicht geeignet ist für ein kleines Mädchen, an das sie sich fiktiv richtet. Für uns als Leser ist sie anregend. Aber warum nicht tatsächlich sich einmal an Kinder richten? Sie sind unsere Zukunft.

 autoralexanderschwarz meinte dazu am 17.06.24 um 16:35:
Das mag sein (also das Sprachliche), aber zumindest macht Brecht das ja auch.

 Graeculus antwortete darauf am 17.06.24 um 16:50:
Ausgesprochene Fachtermini wie "Soziologie, Individualpsychologie und Algorithmik" lese ich bei Brechts "Geschichten vom Herrn Keuner" nun nicht - vor allem aber kenne ich dort kein Gespräch mit einem kleinen Mädchen.
Ich nehme doch an, sein Sprachgefühl hätte ihn daran gehindert, zu einem Kind davon zu reden, "Dinge zu rezipieren".

 autoralexanderschwarz schrieb daraufhin am 17.06.24 um 16:53:
Dann lies mal die vielleicht berühmteste: "Wenn die Menschen Haifische wären"

 autoralexanderschwarz äußerte darauf am 17.06.24 um 16:54:
"Vor allen niedrigen, materialistischen, egoistischen und marxistischen Neigungen müßten sich die Fischlein hüten, und es sofort melden, wenn eines von ihnen solche Neigungen verriete."

Antwort geändert am 17.06.2024 um 17:03 Uhr

 Graeculus ergänzte dazu am 17.06.24 um 16:55:
Ist mir momentan nicht gegenwärtig. Doch selbst wenn er es tut - ist es deswegen gut, zu einem Kind so zu sprechen?

 autoralexanderschwarz meinte dazu am 17.06.24 um 17:02:
Letztendlich spricht Herr Keuner ja gewissermaßen durch das Kind zu dem Leser, der gemeinhin kein Kind ist und weil du dich (den Eindruck habe ich bisher gewonnen) ja durchaus gut mit dem Theater auskennst, will ich dich gar nicht über Brechts Wirkabsichten belehren, die er ja auch (ich glaube unter dem Überbegriff "sozialistisches Theater") durchaus selbst ausgeführt hat. Abseits von Brecht mag ich diesen Bruch, der dadurch entsteht (und den ich ja indirekt auch in der Reaktion des Mädchens aufgreife).

Antwort geändert am 17.06.2024 um 17:03 Uhr

 Graeculus meinte dazu am 17.06.24 um 17:06:
Auf Anhieb finde ich jetzt, auf Kinder bezogen, "Der hilflose Knabe" (sehr kindgerecht geschrieben) und das von Dir erwähnte "Wenn die Haifische Menschen wären", wobei ich mir denke, das "materialistisch" und "marxistisch" könnte ein Mädchen damals im Sinne von "böse, böse!" aufgeschnappt haben; im Rahmen der längeren Geschichte ist das allerdings eine singuläre Stelle, während Dein Text voll von Fremdwörtern ist.

Aber das ist mein Eindruck - die Entscheidung triffst Du.
Vielleicht gibt es hier auch noch andere Meinungen dazu.

 autoralexanderschwarz meinte dazu am 17.06.24 um 17:08:
Sehr schön ist - wie ich finde - auch "Maßnahmen gegen die Gewalt".

 Graeculus meinte dazu am 17.06.24 um 17:08:
Wenn Du es bewußt als Stilmittel einsetzt und dich eigentlich an Erwachsene wendest, sieht die Sache anders aus.
Ich täte es, glaube ich, dennoch nicht.
Kardamom (40) meinte dazu am 17.06.24 um 19:01:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 autoralexanderschwarz meinte dazu am 17.06.24 um 19:09:
Das ist wohl wahr und die – zugegebenermaßen unkindliche – Sprache des Kindes lässt sich auch deutlich schwerer rechtfertigen als die des Protagonisten. Da muss ich erst einmal drüber nachdenken.

Dank und Gruß
AlX
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