Achtsamkeit II

Text zum Thema Dank/(Un-)dankbarkeit

von  B_B

Erinnerungen an die Zeit meines Umzugs steigen auf: Damals habe ich mir die noch unbekannte Gegend verfügbar gemacht. Ein schönes Alleinsein- und Freiheitsgefühl war das. Und: Aufbruchstimmung! Heute: Ein sonniger Herbstmorgen. Ja, ich bin jemand, der sich auf eine Bank auf einem Friedhof setzt, ja ich mag das.

Zu meinen Füßen kräuseln sich braune Blätterhäufchen über denen Wespen schweben. Dazwischen kleine, fast magentapinke Beeren, vielleicht von einer Esche. Tatsächlich sehe ich über mir typische tannenähnlichen Zweige. Unterwegs natürlich schön eine Kastanie als Handschmeichler aufgesammelt. Die grauweiße Stelle ist feucht, leicht rau und riecht süßlich. Ich habe den Impuls, sie mir an die Lippen zu halten, genau wie die dunkle rotbraune glatte Haut der Ksstanie. Gespeicherte Erinnerungen daran aus der Kindheit treiben mich.


Kindheit, so fühlt es sich an, wenn ich allein für mich draußen unterwegs bin. Ich war vorhin ganz entzückt, als ein Eichhörnchen laut einen Baumstamm heraufwetzte und dann zweimal prüfend um diesen herum lugte, ob ich ihm wohl eine Gefahr werde. Und auf dem Friedhof war ein Rotkehlchen, das unbeirrt und vorwitzig laut in meine Richtung sah und rief, gegen das dröhnende Kirchengeläute hatte es nur keine Chance. Dafür bei jedem Ruf ein kleiner Knicks. Süß. Possierlich. Die Natur um mich herum ist deutlich aufgeweckter als ich. Mein Kopf piekst leicht und ich sehe verschwommen. Aber trotzdem fühle ich mich ein bisschen wie Schneewittchen und bin sehr dankbar für diesen freien friedlichen Sonntagmorgen.

Das sind keine Kleinigkeiten, die ich erlebe.

Erst jetzt sehe ich, direkt vor mir ist ein leeres Grab. Eine quaderförmige schlichte Stelle, nur mir Gras bewachsen. Ob man das reservieren kann?
Aus den Augenwinkeln sehe ich eine Bewegung auf dem Boden, ein kleiner runder Sonnenflecken, zufällig ist dort der Schatten meiner Hand, die unbewusst mit der Kastanie spielt. Toll wie ich mich immer wieder selbst überrasche.
Ich wechsle, wie immer, hin und her zwischen der Außen- und Innenwahrnehnung. Rascheln. Atmung. Kopfschmerzen. Verstopfte Nase. Ein herabsegelndes Blatt. Ein scharfer Vogelruf. Das Geräusch vom Harken von Laub. Irgendwo wird Ball gespielt. Meine Ohren schaffen es, die Richtungen auszumachen, aus denen die Geräusche kommen. Wenn ich nicht wüsste, wo hier der Fußballplatz ist oder die Straße langgeht, ich könnte es ziemlich gut erlauschen.
Ich erfreue mich an dem Kontrast zwischen dem Blau meines Pullovers und dem strahlenden rotbraunen Maserung der Kastanie in meinem Schoß. Endlich Pulloverwetter und der Geruch von feuchter Erde und Laub. Elstern schnattern laut und verhandeln irgendwas. Drei Rotkehlchen auf dem Weg agieren in einer für mich nicht nachvollziehbaren Weise miteinander. Gehopse und Gezeter, aber vergnügt wirkend. Ich sehe, wie sich eine Mücke auf meine linke Hand setzt und zwischen den kleinen blonden Haaren auf dem Handrücken einen Platz sucht, um ihren Rüssel zu platzieren. Ich überlege, sie machen zu lassen, so versöhnlich bin ich grad drauf.
Auf dem Rückweg auf einem Spielplatz im Sand sitzt eine Frau mit einem Kind. Ganz idyllische Szene, aber irgendwie auch traurig. Sie sieht zu mir auf, ich sehe sofort weg. Ich stelle mir vor, wie ich zu ihnen gehe und Hallo sage und einfach mal "eine Bekanntschaft mit jemandem aus der Nachbarschaft mache". Vielleicht bin ich irgendwann mal so eine Person, aber nicht heute. Die Sonne scheint mir warm auf den Rücken.

Ich komme zurück in die Stille meiner Wohnung. Nur der Kühlschrank brummt leise und die Uhren ticken. Auf mich warten eine Ibuprofen, Frühstück und ein Nickerchen. Wie schön, dass ich dieses Leben führen darf und kein anderes.


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Kommentare zu diesem Text


 AchterZwerg (01.10.24, 06:21)
Vorzüglich erzählt: Das Wunderbare im scheinbar Unwichtigen ist nachvollziehbar.

Gäbe es den letzten, leicht zynischen Satz nicht, könnte deine Leserin an den Garten Eden auf einem Friedhofsgelände denken.
Doch da gibt es dieses andere, dieses Sehnen nach menschlicher Ansprache, nach Wärme nach einer Berührung ...

Nicht wenige Leben spielen sich im Alter so ab.
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