Farben, wild und weggelaufen

Text

von  Isensee

Rot: ein schmerzhafter Kratzer,
unter den Nägeln –
wie glühende Kohlen, die sich abrollen,
sandige Träume, die flüstern,
ohne Sinn, ohne Richtung.
Schau, wie die Beeren zerplatzen,
dunkles Blut auf hellen Tüchern,
das Knistern einer Erektion
beim Überqueren der Straße,
das Brechen von Hälften,
von Herzen, von … woher?
Ruf mich nicht.


Blau: ein cooler Atem,
eisiger Griff, wie Wasser im Hals,
das Zischeln einer Spritze,
das Geräusch von abgerissenen Flügeln.
Das kommt auf leisen Sohlen,
ein Schatten, der dich verfolgt,
einer, der nicht weicht,
die tiefe Kälte
einer endlosen Frage.


Gelb: das kratzende Lachen,
eine Katze auf der Zunge,
so scharf wie ein Plätscher,
ein Sonnenstrahl, der in die Augen schießt.
Hier ist der Blitz, der blitzt,
das Aufblitzen eines Gedankenstrichs,
das Kreischen einer Kreissäge –
und du, stehst fest,
schau hin, es leuchtet,
und dann verschwindet alles,
schrill, süß, nichts ist gewiss.


Grün: ein schlammiger Atem,
feucht, tanzend,
wo die Wurzeln sich verwickeln,
alte Geschichten.
Ein Stöhnen der Blätter,
das Knacken von Leben,
unter der Erde, über den Wolken,
und hier bist du,
inmitten von Farben und Schreien,
die dir ins Ohr fallen –
grün ist das Ungeheuer,
das in der Dunkelheit schlüpft.


Schwarz – ja, das ist es,
das Drücken in die Unendlichkeit,
eine Faust, die sich ballt,
die Nacht rollt über dich,
stumm, ohne Licht.
Hier gibt es kein End.

Es ist das Ertrinken,
ein Gedicht, das nicht aufhört,
ein Kreislauf, der sich nicht schließt,
die leere Tasse, die nicht leer ist.

Fühl die Farben,
schau, sie sind hier,
sie hocken in der Ecke,
kratzen an der Wand,
summen in der Dunkelheit,
versprechen dir alles –
und nehmen es dir gleich wieder.
Hier ist die Erfahrung,
ein Gefühl, das nicht endet,
ein Nebel aus Erinnerungen,
die du nie gemacht hast.



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Kommentare zu diesem Text


 Tula (04.11.24, 21:31)
Hallo Isensee
Einige Bilder gefallen mir sehr, originell und kräftig. Rot und Blau am meisten, danach fällt es etwas ab.
Andererseits wirkt es literarisch auf mich wie die Show eines Bodybuilders, der mir mit seinen Posen nach und nach alle seine Muskeln zeigen will. 

Weniger wäre hier mehr. Vor allem den letzten Block (ab dem Ertrinken) würde ich überdenken. Die Idee des Kreises (oder besser 'Rad') könnte man vielleicht mit einer originellen Rückkehr zum Rot erarbeiten, mit sprachlich flüssigen Übergängen von einer in die andere Farbe, gewissermaßen als 'fließendes Bild'.

LG Tula

Kommentar geändert am 04.11.2024 um 21:36 Uhr
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