Kind und Vater

Bericht zum Thema Vater/ Väter

von  Graeculus

In einer Fernseh-Dokumentation über einen Tag im Leben dreier Diktatoren (Josef Stalin, Muammar al-Gaddafi und Idi Amin) hatte man im Falle Stalins als diesen einen Tag denjenigen ausgesucht, an dem er Nikolaij Jeschow abgesetzt hat.

Jeschow war von 1936 bis 1938 Chef des NKWD und in dieser Zeit verantwortlich für die Große Säuberung, die in der UdSSR nach ihm auch „Jeschowschtschina“ genannt wurde und in der eine, anderthalb Millionen Menschen (es gibt nur Schätzungen) ermordet wurden.

Im Film wurde eine überlebende Tochter Jeschows interviewt und zu ihrem Vater befragt.
Was fiel ihr dazu ein?
Daß ihr Vater im Jahre 1940, als er erschossen wurde und man ihm schon die Pistole ans Genick gesetzt hatte, im letzten Augenblick seines Daseins also, um das Leben seiner Tochter gebeten habe.

Ich weiß nicht, ob das stimmt. Aber sie will es so glauben.

Sie will, sie kann nicht glauben, daß es die volle Wahrheit ausdrückte, wie man ihren nur 1,50 m großen Vater nannte: „der blutige Zwerg“.


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Kommentare zu diesem Text


 ran (04.11.24, 18:01)
Für Kinder von Verbrechern tut sich ein Abgrund auf, zw. der natürlichen familiären Bindung, welche zu brechen auch  gesellschaftlich normalerweise nicht gutiert wird, und der sozialen Bindung zu anderen Menschen, welche außerhalb der Verbrechergruppe stehen. Das ist eine heftige innere Zerreißprobe, der sie ausgesetzt sind. Alle Achtung, wer sie besteht.

 Graeculus meinte dazu am 04.11.24 um 18:49:
Mein Eindruck ist der, daß man sie (leichter?) besteht, indem man sich etwas vormacht. Eine fromme Lüge (pia fraus).
Wer wollte das verurteilen?

 ran antwortete darauf am 04.11.24 um 20:36:
Solange dadurch niemand zu schaden kommt, muss man es nicht verurteilen. 
Man muss leider davon ausgehen, dass ein nachträgliches reinwaschen von Verbrechern durch Lügen von Verwandten die Traumata der Opfer verschlimmert.

Interessant ist zb. der Vergleich von Kindern der Hauptnazis. Die gingen in sehr unterschiedlicher Weise damit um. Daran erkennt man, dass es eine Wahl gibt, es ist nicht vorprogrammiert.

 Graeculus schrieb daraufhin am 04.11.24 um 23:53:
Du formulierst einen Grundsatz, dem ich zustimmen kann, schreibst aber gleich danach, daß dieses Reinwaschen eben doch so unbedenklich nicht ist.

Im vorliegenden Fall allerdings denke ich, daß die Taten des blutigen Zwergs nicht dadurch verharmlost werden, daß seine Tochter glaubt, er sei wenigstens ein fürsorglicher Vater gewesen.

Daß die Kinder der großen Polit-Verbrecher unterschiedlich damit umgehen, überrascht nicht, oder? Nein, programmiert ist das Verhältnis nicht.

Was allerdings biologisch programmiert ist, ist der Umstand, daß man von seinem Vater 50 % der Gene hat. Und das bedeutet immerhin etwas. Ich vermute: daß man sich in Teilen in ihm wiedererkennt. Wie natürlich auch im Hinblick auf die Mutter. Nur: diesen Teil kann man lieben oder hassen. Das ist nicht programmiert.

 Klemm (04.11.24, 18:07)
Robert Leys Tochter Renate Wald hat ein ganzes Leben gebraucht, um idealisierte Bild des Vaters gegen ein realistisches einzutauschen.

 Graeculus äußerte darauf am 04.11.24 um 18:52:
Dabei ist Robert Ley doch zwei oder drei Nummern kleiner als Nikolaij Jeschow.
Daß Ley Alkoholiker war und Suizid begangen hat, kann man als ein Indiz dafür werten, daß es in ihm auch eine andere Seite gab, die in diesem Falle aus Selbstzweifeln und Schuldgefühl bestand.

Vermutlich sucht die Jeschow-Tochter nach dieser anderen Seite ... bzw. glaubt an sie. Aber als Anhaltspunkt bleibt ihr nur eine - wie ich meine - Fiktion.

Gibt es eigentlich auch Nachkommen von Lawrentij Berija?

 Klemm ergänzte dazu am 04.11.24 um 19:02:
Gibt es eigentlich auch Nachkommen von Lawrentij Berija?
Laut Wiki einen ehelichen Sohn, Sergo, und mehrere uneheliche.


Ley war schon Alkoholiker, bevor er der NSDAP beitrat, als Grund wird nicht Schuldgefühl, sondern Selbstmedikation nach einer Verletzung im Ersten Weltkrieg angenommen.

Ich würde es Idealisierung statt Fiktion nennen. Eine geglückte Emanzipation von den Eltern beinhaltet immer die Anerkennung ihrer Fehlbarkeit, von den bewunderten Eltern werden sie zu gewöhnlichen, anderen Erwachsenen. Möglich, dass Jeschow der Tochter eine andere Seite gezeigt hat, wahrscheinlicher jedoch, dass ihr Selbstgefühl an die rückhaltlose Bewunderung seiner Person gebunden war. Die 

Frage ist doch: warum ist es eigentlich so schwierig mit den Taten der Eltern zu leben? Sie ein Leben lang zu verleugnen, ist m.E. ganz und gar nicht einfacher.

Antwort geändert am 04.11.2024 um 19:09 Uhr

 Graeculus meinte dazu am 04.11.24 um 20:32:
Berija ist der einzige bekannte Mensch, über den ich noch nie irgendetwas Positives gehört habe. Ich meine, Hitler war wenigstens Vegetarier und liebte Hunde, Heydrich spielte gut Violine usw.
Der arme Sohn.

So, Ley war schon vor dem Dritten Reich Alkoholiker. Das wußte ich nicht. Und ob dem Suizid irgendein Zeichen von Selbsterkenntnis zugrunde lag oder lediglich der harte Entzug, das wissen wir nicht.

Mit der Fiktion meine ich, daß ich sehr stark bezweifle, daß Jeschow in seinem letzten Moment irgendetwas in dieser Art gesagt hat? Wer hätte die Tochter eines "Volksfeindes" darüber informieren sollen?

Wir sind uns sicher darin einig, daß Kinder in keiner Weise für die Taten ihrer Eltern verantwortlich sind. Der Rest besteht dann aus Deiner Frage: "warum ist es eigentlich so schwierig mit den Taten der Eltern zu leben?"
Anscheinend kann man sich als Kind - selbst beim "blutigen Zwerg" - schwer von ihnen distanzieren. Und mir scheint, daß die schlichte biologische Tatsache (das Kind hat 50 % seiner Gene von diesem Vater) dafür keine zureichende Erklärung ist. Falls es eine kindliche Liebesbeziehung zum Vater gab, mag die Erklärung dort liegen.
Nun, in der Regel waren diese bolschewistischen Funktionäre keine besonders fürsorglichen Väter.
Ganz sicher war es Stalin nicht; und das Schicksal seiner drei Kinder gibt zu denken.

Antwort geändert am 04.11.2024 um 20:32 Uhr
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