Das Herz der Dinge

Essay zum Thema Gerechtigkeit/ Ungerechtigkeit

von  Graeculus

Der Zeitung (FAZ vom 13. Juni 2017) entnahm ich, daß unter der Verantwortung des kosovarischen UÇK-Freischärlers Ramush Haradinaj im Kosovo-Krieg 1998/99 Gefangenen Schnittwunden zugefügt worden sind, in die dann Salz gestreut wurde und die anschließend wieder vernäht wurden. Später wurden diese Opfer in Stacheldraht gewickelt, dieser mit einem Werkzeug ins Fleisch getrieben und die Menschen dann hinten an ein Fahrzeug gebunden, um zu Tode geschleift zu werden.

Haradinaj ist deshalb vor dem Haager Kriegsverbrechertribunal angeklagt, aber 2008 aus Mangel an Beweisen freigesprochen worden, nachdem mehrere Zeugen ihre Aussage zurückgezogen hatten oder tödlichen Unfällen zum Opfer gefallen waren.

Dieser Haradinaj war dann von 2017 bis 2019 Ministerpräsident des Kosovo.

Bei Denis Johnson („Schon tot“, S. 404) äußert ein Mann – ein Ordnungshüter übrigens –, sein größtes Problem bestehe darin, „daß im Herzen aller Dinge ein gigantisches Schweigen herrscht“.

Es ist nicht so, daß ich mir über Politiker - auch solche im Kosovo - Illusionen machte; aber dieses gigantische Schweigen im Herzen der Dinge bedrückt mich.


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Kommentare zu diesem Text


 Saira (16.11.24, 18:59)
Hallo Wolfgang,
 
es ist ein bedrückendes Thema, das du aufgegriffen hast. Du beleuchtest die Grenzen von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit in einem historischen Kontext.
 
Die Schilderung der Taten unter Ramush Haradinaj ist nicht nur schockierend, sondern wirft auch grundlegende Fragen über Verantwortung und Gerechtigkeit auf. Dass ein Mensch wie Ramush Haradinaj, der für grausame Gräueltaten verantwortlich ist, ungestraft davonkam und später in eine so hohe politische Position aufsteigen konnte, hinterlässt ein Gefühl der Ohnmacht und Wut.
 
Es gab und gibt nicht wenige Menschen, die Kriegsverbrechen verübt haben und verüben und die ungesühnt bleiben. Zeugen werden entweder liquidiert oder anders mundtot gemacht.Wer dazu die Macht hat, missbraucht sie auch dafür.  
 
Es ist ein unerträglicher Gedanke, besonders für die überlebenden Opfer und die Angehörigen der Opfer, dass die Wahrheit im Dunkeln bleibt.
 
Liebe Grüße
Sigrun

 Graeculus meinte dazu am 17.11.24 um 23:29:
Ja, liebe Sigrun, das ist schwer erträglich. Und das Kosovo ist ja kein Einzelfall, vielmehr ein kleines Land mit relativ wenigen betroffenen Menschen. Am schlimmsten steht es derzeit wohl mit der Lage im Sudan. Die Welt, unsere Welt ist voll von Machtmißbrauch und Verbrechen, die nicht gesühnt werden. Wie mag es den Opfern mit dieser Einsicht ergehen? Wie fühlen sie sich?
Eine Ahnung vermitteln die interviewten Menschen in der Ukraine nach einer erneuten Nacht russischer Bombenangriffe. Die alles verloren haben und nicht wissen, wo sie hin sollen.

 AchterZwerg (16.11.24, 18:59)
Nicht nur Schweigen, sondern auch (undurchdringliche) Finsternis, so mein Eindruck!

 Graeculus antwortete darauf am 17.11.24 um 14:08:
Kann man Finsternis als optisches Schweigen auffassen? Es ist nichts da - kein Wort, kein Licht -, wo man etwas erwartet oder erhofft.

 LotharAtzert (17.11.24, 09:43)
Dein Druck in Ehren. Er bringt aber auch dann nichts, wenn ihn Millionen teilen.
Nur wer sich selbst verändert ... den Rest kennst Du.

 Graeculus schrieb daraufhin am 17.11.24 um 11:23:
Nur wer sich selbst verändert ...

Ich selbst wickle keine Menschen in Stacheldraht und beseitige auch keine Zeugen.

Das hilft natürlich nichts und versöhnt mich auch nicht mit der Welt. "Der erschreckendste Fakt über das Universum ist nicht, daß es feindselig ist, sondern gleichgültig." (Stanley Kubrick) Das ist es wohl, dieses gigantische Schweigen im Herzen der Dinge.

Was kann man tun?

Sich eine kleine Idylle aufbauen und wärmende Texte schreiben über Liebe, Jahreszeiten etc.

Sich einer Religion zuwenden und daran glauben, daß dies alles schon irgendwie (Karma/Wiedergeburt, Hölle/Himmel) ausgeglichen werde.

Sich weiterhin für die irdische Gerechtigkeit, in diesem Falle den Internationalen Strafgerichtshof, engagieren ... mit Sisyphos als Vorbild.

Sonst noch was?

Antwort geändert am 17.11.2024 um 11:24 Uhr

 Saira äußerte darauf am 17.11.24 um 11:53:
@ Graeculus

Lieber Wolfgang,
 
es ist unbefriedigend, sich in der Hoffnung zu verlieren, dass sich die Welt durch individuelle Veränderungen zum Besseren wenden kann. Doch wie du treffend anmerkst, ist das nicht genug, um uns mit der Realität zu versöhnen. Die Vorstellung, dass wir uns in einer kleinen Idylle zurückziehen oder uns einer Religion zuwenden können, um die Ungerechtigkeiten dieser Welt zu ertragen, ist verlockend, aber letztlich unzureichend.
 
Dein Vergleich mit Sisyphos ist hier besonders passend: Wir müssen die Steine, die uns im Weg liegen, immer wieder anpacken und versuchen, sie zu bewegen, auch wenn sie uns immer wieder entgleiten. Nicht schweigen, sondern handeln, soweit es im Bereich unserer Möglichkeiten liegt.
 
Herzliche Grüße
Sigrun


Antwort geändert am 17.11.2024 um 11:53 Uhr

 LotharAtzert ergänzte dazu am 17.11.24 um 12:29:
Was kann man tun?

Sich eine kleine Idylle aufbauen und wärmende Texte schreiben über Liebe, Jahreszeiten etc.
Auch das könnten wir mal zum Abschluß bringen. Weder ist Buddhismus eine Religion, noch sind die, die in Stille meditieren Idylliker. Wenn Du das annimmst, verhöhnst du all jene, die ihren Geist klären. Die Wirkung eines Geistesklaren ist der Sonne vergleichbar, die spendet ihr Licht an alles Leben, sogar für Dich. 

Und mit Hoffnung - Sigrun - hat das rein gar nichts zu tun. Sein Ding machen und weitergehen, das träfe es eher. Ein Bodhisattva ist "ohne Furcht und Hoffnung".

 Graeculus meinte dazu am 17.11.24 um 14:18:
Der Rückzug in die Idylle und die Religion sind für mich zwei verschiedene Reaktionsmuster und auch so aufgeführt.

Ob man den Buddhismus als Religion bezeichnet oder nicht, hängt von der Definition des Begriffes "Religion" ab. Wegen des fehlenden Glaubens an einen rettenden Gott rechnen ihn manche Religionswissenschaftler nicht zu den Religionen, andere (die meisten) aber doch, indem sie eine andere Definition zugrunde legen.
In dem umfangreichen Standardwerk "Religionen [!] der Menschheit" nimmt der Buddhismus sogar drei Bände ein.


Die Wirkung eines Geistesklaren ist der Sonne vergleichbar, die spendet ihr Licht an alles Leben, sogar für Dich.

Das ist gut gemeint, daß sie, die Meditierenden, sich solche Mühe für uns machen. Leider merkt man davon - anders als bei der Sonne - im Geschehen der Welt nichts. Im Kosovo nicht, in Rußland nicht und erst recht nicht im Sudan. Aus diesem Grunde ist diese Bemühung um eine Heilswirkung eine Glaubenssache (Religion) und am ehesten erfolgreich in der Haltung, der Einstellung des Meditierenden selbst.

Interessant ist, daß dieses gigantische Schweigen im Herzen der Dinge seine Entsprechung findet in der buddhistischen Redweise vom "donnernden Schweigen des Buddha". Vermutlich ist dieses Schweigen die einzige Antwort, die uns bleibt.

 Graeculus meinte dazu am 17.11.24 um 14:20:
Liebe Sigrun, auf Deine Beiträge komme ich später zurück - dafür brauche ich noch etwas Muße.

Herzlich,
Wolfgang

 Klemm meinte dazu am 17.11.24 um 17:05:
Sein Ding machen und weitergehen, das träfe es eher.
Lothar, mir fallen gleich mehrere historische Situationen ein, in denen sich dieses Verhalten eher nicht so "mein Ding" ist.

 LotharAtzert meinte dazu am 17.11.24 um 22:11:
sich solche Mühe für uns machen
Mannmannmann, ich red' gegen Wände.

"Mühe für uns" - eitler Gockel!

Klemm - jaja, die Plausibilitäten. Nur nicht an die eigenen Verdrängungen gehen, die sieht man lieber bei den anderen. Und die dort sehen es bei uns. Jeder ist jedem feind, solange ... ach es ist sinnlos.

 Graeculus meinte dazu am 17.11.24 um 23:25:
Ja, es ist sinnlos. Auch der rhythmische Astrobuddhismus ändert nichts am gigantischen Schweigen im Herzen der Dinge. Und schon gar nicht unser "Gespräch".

Was sollte es den Menschen im Sudan helfen, wenn ich an meinen Verdrängungen - so es sie gibt - arbeite?

 Graeculus meinte dazu am 17.11.24 um 23:34:
An Saira/Sigrun:

Ich fürchte, die menschenmögliche Gerechtigkeit, die durch Gerichte, können wir in großen Teilen der Welt vergessen. Also: resignieren oder weiter, unermüdlich à la Sisyphos unseren Stein auf den Berg schleppen.

Aber worin besteht unsere Sisyphos-Arbeit hier als Individuen in Deutschland, wenn es um globale Konflikte geht?
Mir fällt eigentlich nichts anderes ein, als die Themen immer wieder anzusprechen und die Opfer nicht dem Vergessen anheim fallen zu lassen.
Oder weißt Du einen anderen Weg?

 ran (17.11.24, 15:38)
Das Schweigen heißt omerta, es ist typisch für kriminelle Organisationen. Der Rechtsstaat zieht den kürzeren.

 Graeculus meinte dazu am 17.11.24 um 15:59:
Dieses Schweigen gibt es - es ist aber nicht das, was mit dem "gigantischen Schweigen im Herzen der Dinge" gemeint ist. Die omertà kommt im Text dort vor, wo im Prozeß Zeugen ihre Aussage zurückziehen ... oder beseitigt werden.
Das andere ist ein, sozusagen, metaphysisches Schweigen. So zitiert Jesus, am Kreuz sterbend, aus den Psalmen: "Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Und es gibt keine Antwort. Das Universum schweigt.
Es schweigt auch bei allen Fragen zu Ramush Haradinaj und Konsorten.

 ran meinte dazu am 17.11.24 um 16:39:
wo im Prozeß Zeugen ihre Aussage zurückziehen ... oder beseitigt werden.
das hatte ich gemeint.


Das metaphysische Schweigen, gibt es das wirklich? Dinge haben zwar kein Herz, aber manchmal sprechen sie doch. Es hat natürlich keinen Sinn, denen moralische Fragen zu sellen.

Die Menschen schweigen nicht. Schwiegen sie, wüssten wir nichts davon, was alles schreckliches geschiet.

Stell dir vor, das Universum würde etwas menschenspezifisches sagen, das wäre mir sehr unheimlich, noch unheimlicher als sein schweigen.

Antwort geändert am 17.11.2024 um 16:56 Uhr

 Graeculus meinte dazu am 17.11.24 um 23:22:
Ich weiß eigentlich auch nicht, wie das Universum zu uns sprechen sollte. Aber das (von mir so genannte) metaphysische Schweigen, das gibt es, das spüre ich. Da ist keine Antwort auf unsere Probleme und Fragen. Nicht seit dem Verlust des Glaubens an einen sich uns offenbarenden Gott.

Ich erinnere mich und Dich an den Schluß von "Drive my Car", über den wir einst gesprochen haben:

Was soll man machen, wir müssen leben! Pause. Wir werden weiterleben, Onkel Wanja, eine lange, lange Reihe von Tagen und von langen Abenden; wir werden geduldig die Heimsuchungen tragen, die uns das Schicksal sendet; wir werden für andere arbeiten, jetzt und wenn wir alt sind, und keine Ruhe kennen, und wenn unsere Stunde schlägt, werden wir gehorsam sterben [...]

Wir werden weiterleben ... mit Ramush Haradinaj und Konsorten.
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