Mein Opa

Beschreibung

von  Redux

Will ich von meinem Großvater Franz Theodor schreiben, der im Februar 1901 als erstes Kind meiner Urgroßeltern geboren wurde, laufe ich Gefahr, dass ich ihn als Person verkläre, ihn über allen Maßen als sanften, liebevollen Menschen zeichne, so wie ich gleichfalls Gefahr laufe, seine Frau, meine Oma,als den kleingeistigen, boshaften und Unruhe stiftenden Menschen zu beschreiben, der er aber wohl doch annähernd war.

Meine Mutter bezeichnete ihren Schwiegervater immer als den Menschen, mit dem man niemals Streit bekommen könne, es sei denn, man suche ihn. Meinen Opa habe ich fast zehn Jahre lang durchs Leben begleitet, seine letzten fast zehn Jahre, und viele Erinnerungen habe ich,meist gute. Er hat nie in den Krieg ziehen müssen, vier seiner Brüder, Heinrich, 1903 geboren, Alfons, 1907, Bernhard 1909 und Wilhelm, 1917 geboren, zogen in diesen sinnlosen Weltenbrand, Richtung Frankreich meist, aber Wilhelm auch Richtung Russland, und glücklicherweise ist keiner seiner Brüder gefallen. Mein Großvater wurde angeblich gemustert, wobei offenbleibt, ob zum Anfang des ersten oder des zweiten Weltkriegs. Und angeblich musste er auch eine weite Strecke reisen, wo er nur mit Durchfall und Unwohlsein reagierte, vor Heimweh krank und schließlich heimgeschickt wurde. Was an dieser Familienlegende wahr und was Fantasie ist, kann ich nicht mehr nachprüfen. Fakt ist, dass er nie eine regelrechte Berufsausbildung absolvierte, sondern auf dem heimischen Hof sein Brot verdiente, wie es wohl vor rund hundert Jahren nicht selten der Fall war. Nebenbei ging er einigen Tätigkeiten nach, so ist aus einem alten Arbeitsbuch zu lesen, dass er von 1919 bis 1921 als einfacher Arbeiter bei einer Nährmittelfabrik in Billerbeck beschäftigt war, später als Hilfsarbeiter vom Oktober 1921 bis März 1922 in einem Coesfelder Eisenwerk. Belegt ist auch, dass er als junger Mann oftmals bei dem Bauern Gröver in der Bauerschaft Bombeck tätig war, dem Bauern, der seinem Großvater Theodor im Jahre 1866 Geld lieh, um das Bauernhaus, unser aller Elternhaus, zu finanzieren und zu erbauen. Viele Jahre arbeitete er auch bei der Futtermittelfabrik Wübken in Billerbeck. 

Meinen Großvater sehe ich immer in dem kleinen Vogelhaus, dass neben dem Schweinestall angebaut war. Über viele Jahre hinweg züchtete er mit viel Hingabe Kanarienvögel, die in den Wintertagen auf Grund der Kälte in Käfigen in der Wohnküche untergebracht waren. Ich erinnere mich eines Tages, als meine Oma hysterisch und aufgelöst war, den Tränen nahe; in der Nacht hatten Ratten oder ein Marder den kompletten Bestand der Kanarienvögel getötet. Durch Mund- zu- Mund-Propaganda hatte mein Opa über viele Jahre Käufer gewonnen, selbst aus dem Ruhrgebiet kamen Interessenten zu uns ins Münsterland.

Die Bilder von Opa, die ich aneinanderreihen kann, sind kleine Sequenzen, die als Ganzes zusammengefügt, ihn vielleicht genauer skizzieren als eine aufwendige Beschreibung. Da sitzt er an einem sonnigen Frühlingstag auf dem großen Stein am Misthaufen und dengelt selbstversunken das Blatt seiner Sense. Da lässt er uns Kinder am Heiligen Abend in der Küche sitzen, nachdem er aus dem Stall kam, ging er gemächlich ins Badezimmer, wusch sich, legte gute Kleider an, lächelte, als sei der Abend schon fürs Zubettgehen gereift, wo doch noch zu Abend gegessen werden musste, der Rosenkranz gebetet, das Gegrüßest-seist-du-Maria, das Haus war noch einzusegnen, mit einem Buchsbaumzweig aus dem Garten und Weihwasser aus der Schüssel, bis das endlich die lang ersehnte Bescherung stattfinden konnte. Und dann ist da noch das Foto; ich sitze auf seinem Schoß und blättere mit ihm gemeinsam ein Buch mit ganz dicken Seiten aus fester Pappe durch. Und dann ist da noch der Opa, der „Weißt du wie viel Sternlein stehen, an dem weiten Himmelszelt“ seinen Enkeln sang, der Opa, der immer Hustenbonbons in der Tasche hatte, „ Hustelinchen“ genannte, der Opa, von dem es hieß, dass er sich vielen Neuerungen verschloss, der gerne am Alten hing. Mein Vater erzählte, dass er sich lange dagegen wehrte, als die neue Toilette gebaut werden sollte, dann jedoch sehr froh darüber war, als alles neu und sauber war.

Und da sehe ich meinen Opa in der alten Küche sitzen, es ist Sommer, die hölzernen Blendläden sind zugeklappt, der Holztisch mit der grün-grau gesprenkelten Tischplatte ist sauber gewischt worden. Vor ihm die Tageszeitung, die uns im Außenbereich erst mittags erreichte, und zwischen seinen feuchten, fast triefenden Lippen eine Zigarre, die beständig ihre blauen Schwaden Tabakrauchs wie geisterhafte Tücher durch die sommerlich verdunkelte Küche schweben ließ. Rückblickend glaube ich, dass er tief in sich ruhte und sich selbst und der Welt mit einer Selbstverständlichkeit begegnete, die ich beispielsweise bei mir selbst noch niemals finden konnte. Noch Jahre nach seinem plötzlichen Tod lagerten ein oder zwei Holzkisten seiner Zigarren bei uns im Haus, und noch etliche Jahre später, als ich , der schon sehr früh mit dem Rauchen begann, zerbröselte die staubtrockenen Zigarren zu einer körnigen Masse, die ich in meine Filterblättchen eindrehte und ein paar tausend Tage nach seinem Tod war da wieder der Geruch der Kindheit, des Opa, meine Güte...

Mein Opa war, wie aus dem Kondolenzschreiben der Stadt Billerbeck, drei Tage nach seinem Tod verfasst, hervorgeht, vom 17.Oktober 1948 bis zum 18.März 1961 Mitglied der Gemeindevertretung, und ich sehe ihn vor einem träumerischen Auge, wie er, der nie einen Führerschein besaß, mit dem Rad bei Wind und Wetter den rund dreieinhalb Kilometer langen Weg über diesen beständig hinziehenden Buckel, den wir schlicht „ den Berg“ nannten, nahm.

Über mehr als zwei oder drei Generationen war unsere Familie das Paradebeispiel für die kleinen Leute, die rechtschaffen und gläubig, arm, bisweilen vielleicht bedürftig, in einer Ortsgemeinschaft sich einen
respektablen, geschätzten Ruf erarbeitet hatten


Mein Opa starb am Nachmittag des 4.März 1974. Es war ein Vorfrühlingstag mit Temperaturen, die wenige Grad über Null lagen. Ganz plötzlich, ohne dass irgendjemand damit rechnen konnte, ohne Anzeichen einer Krankheit, endete Opas Leben in einer Schönheit, die jeder Sterbende sich kaum zu wünschen wagt. Zeit seines Lebens war er wohl nie ernsthaft erkrankt, mal plagte ihn ein grippaler Infekt, mal schmerzten die Bandscheiben, harmloses kurzes Unwohlsein, das kam und ging.

Am Nachmittag seines Todestages ging er in den Stall, nahm rechts den Weg durch die Strohecke, kletterte die Leitersprossen zum Heuboden hinauf, um das Heu und Stroh für die abendliche Fütterung durch die Luke zu werfen. Hier, auf dem Strohboden, dem Platz, der typischer für sein Leben kaum hätte sein können, hörte sein Herz nach dreiundsiebzig Jahren ganz einfach auf,seinen Dienst zu versehen, schlug ein letztes Mal und dann nicht mehr, worauf Opa sanft in das Heu sackte, als wollte er hier für immer ausruhen und schlafen. Später wurde oft gerätselt, ob er vielleicht doch ernsthaft erkrankt sei, ob man es hätte besser wissen müssen, dass er ein schwaches Herz gehabt habe. Schon sein jüngerer Bruder Bernhard starb 1964 im Alter von 54 Jahren an einem Herzinfarkt. Im Januar plagte Opa  wohl eine schwere Erkältung, die er wohlmöglich nicht richtig auskuriert hatte. Keine Antworten waren zu bekommen, Opa war plötzlich nicht mehr da, er, der noch tags zuvor die Kälber gefüttert hatte, die Schweineställe ausgemistet, das Mehl gemahlen hatte.
Das Leben bis zur letzten Minute mit Dingen erfüllt, die sein ganzes Leben erfüllten.



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Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (16.11.24, 17:13)
Man muss nicht sehr sensibel sein, um zu spüren, dass hier jede Nuance stimmt.

LG
Ekki

 Redux meinte dazu am 18.11.24 um 17:23:
Danke Ekki, es war mir auch ungemein wichtig, die richtigen und angemessenen Worte zu finden.

 Moppel (16.11.24, 19:18)
eine schöne Geschichte, redux, von früher. So wie es mal war. Und wie es nie wieder wird. Mit KI, Digital und Alexa. Die neue Welt würden diese Menschen, denke ich, nicht mehr verstehen. lG von M.

 Redux antwortete darauf am 18.11.24 um 17:25:
Das würde er auch nicht.
Und ja, diese Zeit ist Geschichte.
So gut und so schlecht wie die heutige.
Wir müssen uns dem Jetzt stellen.
Träumen von früher dürfen wir.

 Saira (16.11.24, 19:40)
Lieber Herbert,
 
du hast all die kleinen, kostbaren Erinnerungen an deinen Opa, die dir niemand nehmen kann
 
Ich kann nur erahnen, wie schwer der Verlust deines Opas für dich ist. Es ist beeindruckend, wie du seine letzten Momente beschreibst – inmitten der Dinge, die ihm so viel Freude bereitet haben. Es ist sicherlich tröstlich für dich, zu wissen, dass er in einem Moment der Schönheit und des Friedens von euch gegangen ist, umgeben von der Natur und der Arbeit, die er geliebt hat.
 
Liebe Grüße
Sigrun

 Redux schrieb daraufhin am 18.11.24 um 17:26:
Für mich als zehnjährigen war es damals ein großer Schock.
Und ich bin bis heute froh, dass er mein lieber Opa war.
Danke Sigrun

 BeBa (17.11.24, 00:02)
Ein toller Text. Und man spürt die Liebe zu deinem Opa in jeder Zeile.

Ich habe leider nur wenige Erinnerungen an meinen Opa (er starb, als ich noch ein Kind war) , der aber vom Wesen her deinem vielleicht nicht unähnlich war. Er lebte gute 200 km vom Ruhrpott entfernt in Kassel, wo wir wohnten. Aber an einige Begegnungen erinnere ich mich gut und gern. Leider ist von der Vergangenheit auch nicht viel auszugraben, sie lebten bis 1945 in Prag und die Erinnerungen sind wohl auf ewig verschüttet.

Daher kannst du froh sein und dich glücklich schätzen, so viele Erinnerungen an deinen Opa zu haben. Und so etwas ist wert, festgehalten zu werden. Das hast du hier ausgezeichnet getan und den Leser dabei mitgenommen.

LG
BeBa

 Redux äußerte darauf am 18.11.24 um 17:27:
Danke Beba,

und wenn diese Liebe zu ihm zu spüren ist, umso besser.
Es freut mich.

 AchterZwerg (17.11.24, 08:23)
Ach,
wie gut solche anrührenden Erinnerungen in den Monat November passen!
Und wie wichtig es in der Entwicklung eines Kindes doch ist, wenigstens einen Menschen von Herzen lieben zu können ... "verdient" und ohne wenn und aber.

 Redux ergänzte dazu am 18.11.24 um 17:28:
Danke lieber Zwerg,
ja ich bin dankbar, auch wenn später noch vieles in meiner Familie schief gelaufen ist.
Die ersten idyllischen Jahren sind mir nicht zu nehmen.

 Teo (17.11.24, 11:00)
Moin Herbert,
mich berühren deine Erinnerungen.
Immer wieder....
Schönen Sonntag 
Teo

Kommentar geändert am 17.11.2024 um 11:00 Uhr

 Redux meinte dazu am 18.11.24 um 17:29:
Danke Teo,
das freue ich mich sehr.
Liebe Grüße in den Pott
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