(K)einer von ihnen

Kurzprosa zum Thema Schule/ Studium

von  Odine

Angespannt schlinge ich den Schultergurt der auf meinem Schoß liegenden Tasche um meine Handgelenke. Das braune Leder schneidet sich in meine Haut. Ich beobachte, wie mir gegenübersitzend die Klassenlehrerin meines Sohnes einen Zettel aus einem beigefarbigen Ordner nimmt. „Ich möchte mit ihnen gerne über die Option sprechen, Kai zukünftig auf einer Förderschule unterrichten zu lassen.“, sagt sie schließlich und schaut mich dabei mit einem müden Blick an. „Was? Kai soll auf eine…Förderschule?“, frage ich ungläubig mit bebender Stimme. Mir scheint, als müsste ich dieses Wort, was sich für mich gerade so fremd und unwirklich anfühlt, mir mit aller Gewalt aus meiner Kehle pressen, vorbei an dem dicken Kloß, der sich dort eingenistet hat und mir die Luft zum Atmen raubt. „Ja, Frau Seidl. Dassollten wir in Betracht ziehen!“
„För -der- schu -le“ -  Wieder und wieder trenne ich dieses Wort gedanklich in seine einzelnen Lauteinheiten. Ich beginne zu realisieren. Vier Silben, zwölf Buchstaben, die mir den Glauben rauben, den Glauben an mich – als Mutter. Habe ich versagt? Was hätte ich anders machen sollen? Hat Kai womöglich mehr unter unserer Scheidung gelitten als ich bisher mitbekommen habe? Ich weiß nicht, wohin mit. In meinem Kopf überschlagen sich die Fragen.
„Glauben sie mir, auch für mich als Kais Klassenlehrerin ist diese Situation nicht einfach. Aber es wäre sicherlich das Beste – für alle.“ „Das Beste? Wissen Sie, was sie Kai damit antun würden?“, platzt es plötzlich, wie von selbst aus mir heraus und ich fauche dieser blöden Kuh mein geballtes Unverständnis entgegen. „Kais Traum ist es, später einmal Pilot zu werden. Flugzeuge sind sein Leben.“ „Aber Frau Seidl, ihm blieben doch trotzdem weiterhin alle beruflichen Möglichkeiten offen – eine Förderschule bedeutet doch nicht, dass er irgendwann nicht doch noch das Abitur machen kann.“, redet sie gebetsmühlenartig auf mich ein. „Außerdem, Kai ist neun Jahre! In dem Alter haben Jungs, wie er, alle paar Wochen andere Berufswünsche und Träume. Heute wollen sie Pilot werden. Morgen Feuerwehrmann. Übermorgen dann Fußballprofi. Das ist doch vollkommen normal!“ Ich bin fassungslos. Hat diese Möchtegernpädagogin das gerade tatsächlich gesagt? „Bitte sehen Sie der Realität ins Auge. Diese Schule ist nicht auf Kinder wie Kai ausgerichtet.“ „Wie meinen sie das: auf Kinder wie Kai?“, frage ich irritiert. „Nur weil er ein wenig lebendiger ist, als andere Kinder, ist das doch noch lange kein Grund, ihn einfach auf eine Förderschule abzuschieben." „Ein wenig lebendiger? Kai zeigt im Umgang mit seinen Klassenkameraden und auch dem Kollegium ein stark impulsives Verhalten. Von seinen Lernschwierigkeiten und Konzentrationsproblemen, möchte ich gar nicht erst sprechen. Schließlich sind sie ja über seine aktuellen Noten informiert.“ Wieder blättert Kais Lehrerin in ihrer Akte. „Sie haben doch sicherlich den Brief mit der Einschätzung unseres Schulpsychologen erhalten. Bei Kai besteht mittlerweile die gesicherte Diagnose einer ADHS-Störung mit besonderem Förderungsbedarf. Für solche Fälle gibt es Einrichtungen mit speziell dafür ausgebildetem pädagogischem Personal, wo auf seine individuellen Bedürfnisse viel besser eingegangen wird.“
Schulpsychologen – dass ich nicht lache. Irgendwelche fremden Leute, die Kai besser kennen wollen als ich, seine leibliche Mutter. Studierte Theoretiker, die glauben meinen Sohn, den sogenannten „Fall“, nach einer Stunde einschätzen zu können, indem sie einen nach irgendwelchen Normen erstellten Fragebogen an ihm abarbeiten. Das Einzige, was für diese Leute zählt, sind die Scores auf irgendeiner Beurteilungsskala. Eine einfache nackte Zahl, die darüber entscheidet, wie das weitere Leben eines Kindes, MEINES Kindes, zukünftig auszusehen hat. Wer nicht passt, hat sofort verloren.
„Haben Sie Kinder?“, frage ich Kais Klassenlehrerin wie aus dem Nichts direkt ins Gesicht. „Wie würden sie reagieren, als Mutter, wenn …?“ „Das tut hier nichts zur Sache“, erwidert diese barsch und wirft mir einen vorwurfsvollen Blick zu. Schweigend sehen wir uns für einen kurzen Moment an. Die Hände ineinander gefaltet, entweicht sie schließlich meinem Blick und schaut auf die mit Spuren von Kreidestaub bedeckte hellbraune Tischplatte vor sich. Dann - eine leise, kaum hörbare Entschuldigung ihrerseits. Ich gehe nicht darauf ein und schaue stattdessen nach draußen auf den im herbstlichen Nebel liegenden verwaisten Schulhof.
„Diese scheinheilige Doppelmoral.“ Verständnislos schüttle ich mit dem Kopf. „Überall wird immer von Inklusion gesprochen, aber wenn …“ „Frau Seidl“, wieder werde ich unterbrochen. „Glauben sie mir! Wenn sich hier jemand für Inklusion einsetzt, dann bin ich das, aber ich muss mich täglich allein um 27 Schülerinnen und Schüler kümmern.“ Resigniert zuckt sie mit den Schultern.
„Der Fachkräftemangel hat längst auch unserer Schule erreicht und macht es mir und meinen Kollegen unmöglich, den individuellen Bedürfnissen jedes einzelnen Kindes gerecht zu werden. Erst recht, wenn diese einer besonderen Betreuung erfordern.“
Fachkräftemangel? Die Klagen dieser Frau gehen mir gerade am Allerwertesten vorbei. Kai soll nicht mehr hier hingehören. So viel ist mir klar geworden. Aussortiert und abgeschoben, wie ein alter nutzloser Computer mit Wackelkontakt. Eine Maschine, für dessen Reparatur sich der Aufwand nicht mehr rentiert, weil längst viel modernere Geräte auf dem Markt sind. Computer, die schneller Befehle ausführen können und ihrem Benutzer weniger Nerven kosten. Mein Sohn – das Auslaufmodell – auf dem Abstellgleis des Bildungssystems.
„Und Kais Freunde? Er würde all seine sozialen Kontakte hier verlieren“, erwidere ich, ohne auch nur einen Anflug von Verständnis aufkommen zu lassen. „Freunde?“, erstaunt sieht Kais Klassenlehrerin mich an. „Einen Freund! Soweit ich weiß, hat Kai in der Klasse lediglich einen einzigen Freund. Wussten Sie das nicht?“ „Nur einen Freund?“, frage ich ungläubig. „Aber was ist mit Tim, Malte und Linus? Kai erzählt doch immer, wie sie …“ „Tim, Malte, Linus? Jungs mit diesen Namen gibt es der Klasse nicht.“ „Was? Nein, das kann nicht sein!“, antworte ich und sacke auf dem für mich viel zu kleinen Stuhl in mich zusammen.
Nachdenklich blicke ich auf die Klassenfotos über der Tafel an der Wand mir gegenüber 27 Kinderaugenpaare, die mich aufgeweckt anschauen - Kai ist einer von ihnen. Eine trügerische Idylle, wie ich mittlerweile weiß.
„Bitte entschuldigen Sie, aber ich habe gleich noch ein weiteres Elterngespräch, auf das ich mich vorbereiten muss“, holt mich Kais Lehrerin aus meinem Gedankenkarussell zurück. Mit ihrem Rollstuhl kommt sie hinter dem Tisch auf mich zugefahren und bleibt vor mir stehen. Ihr Lächeln wirkt unsicher, als sie mir zum Abschied ihre Hand entgegenstreckt. „Auf Wiedersehen, Frau Seidl. Bitte nehmen Sie sich Zeit und überdenken alles nochmal ganz in Ruhe!“ Wortlos, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, verlasse ich das Klassenzimmer.


Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 Augustus (18.11.24, 12:18)
Realitätsnah, spannend und gut geschrieben. Dass Kai Freunde „erfindet“ ist eine überraschende Wende, gleichwohl die Erfindung von Freunden auf eine „Erfindungsgabe“ hindeutet oder eine Gabe zur Problemlösung. 
Diese versteckten Gaben werden ja nie identifiziert, sondern augenscheinlich wird nur der Lernerfolg geprüft, was sich zum Nachteil einiger Kinder auswirkt. 

Die Reaktionen der Mutter sind klar und verständlich, was die Figur sehr echt aussehen lässt. Man fühlt als Leser mit ihr. Auch ihre Überraschung über eigens Kind, das sie wohl nicht ganz so zu kennen glaubt, wie sie bisher dachte, macht den Moment der Überraschung als Höhepunkt des Textes aus. 

Insgesamt vielschichtige Diemensionen tauchen im Text auf, die hier gestreift werden, eine subjektive Ungerechtigkeit, mit welcher die Mutter sich nicht zufrieden geben will, wird zum Spielball ihrer Gefühle.

 Odine meinte dazu am 18.11.24 um 19:22:
Wow, vielen Dank für dieses so ausführlich analytisches Review! Da war ich etwas baff, als ich das gelesen habe. Freut mich, dass die Geschichte dir gefällt 
Danke auch für die Empfehlung!

 ran (18.11.24, 12:40)
Kinder erfinden unsichtbare Freunde, das ist ganz normal. Normalerweise wissen das die Eltern, reale Freunde sieht man doch auch mal nach der Schule oder am Wochenende.
Die Lehrerin ist schon krass, selber die Inklusion genießen und sie gleichzeitig anderen verwehren.

 Odine antwortete darauf am 18.11.24 um 19:21:
Naja, eigentlich wollte ich zeigen, dass die Lehrerin quasi in einem persönlichen Dilemma steckt. Sie möchte aufgrund ihrer eigenen persönlichen Situation schon Inklusion leisten, ist aufgrund von Überarbeitung und Personalmangel dazu aber nicht in der Lage. 

Danke jedenfalls für deine Rückmeldung  🙂

Antwort geändert am 18.11.2024 um 19:23 Uhr

 uwesch (18.11.24, 16:11)
Differenzierte Darstellung der Situation sage ich mal als Berufsschulleher, der das Gymnasium wegen schlechter Noten verlassen hat.
Aber es gibt Wege über den zweiten Bildungsweg - es ist nie zu spät. Ich habe über eine Lehre und Prüfungen dann einen Fachschulabschluss und zwei Diplome gemacht. Manche Menschen sind halt Spätentwickler.
LG Uwe

 Odine schrieb daraufhin am 18.11.24 um 19:11:
Vielen Dank für deine Rückmeldung, Uwe!
Ja, dein Beispiel zeigt exemplarisch, dass man alles schaffen kann und es (meistens) nie zu spät ist. 
Finde ich super, wie du deinen Weg gegangen bist
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram