Johann Sörensen war Bürgermeister von Peunitz, einem kleinen Dorf im norddeutschen Nirgendwo. Nachdem vor knapp drei Jahren der alte Milchbauer Hagenbeck verstarb und dessen an Demenz erkrankte Frau daraufhin ins Pflegeheim in die gut 30 Kilometer entfernte Stadt zog, blieb Sörensen als Letzter der ehemals 126 Einwohner übrig, der noch in Peunitz wohnte.
An milden Sommertagen saß er oft mit der Angel in der Hand am Dorfteich oder er kümmerte sich sorgsam um seinen Garten, wo er hinter dem kleinen Backsteinhäuschen etwas Obst und Gemüse für den Eigenbedarf anbaute. Die grauen und tristen Wintertage verbrachte Sörensen dagegen meistens drinnen am Kamin. Oft holte er dann die alten Dorfchroniken aus dem Schrank und erinnerte sich wehmütig an „die gute alte Zeit.“ In die Stadt, in der er sich seit jeher immer fremd vorkam, fuhr er nur, wenn es unbedingt sein musste, wie etwa zum Einkaufen oder zum Arzt. Alljährlich an Heiligabend besuchten ihn seine Tochter und sein Sohn, welche Peunitz ebenfalls vor vielen Jahren verlassen hatten und die jetzt mit ihren Familien in der Stadt lebten. Auch wenn er sich natürlich freute, seine Kinder samt Enkel wieder zu sehen, so graute es Sörensen andererseits doch jedes Mal ein wenig davor. So sicher, wie das Amen in der Kirche war, versuchten sie jedes Mal wieder und wieder ihren Vater zu überreden, doch endlich dieses so furchtbar einsam und trostlose „Kaff“, wie sie es nannten, endlich hinter sich zu lassen und ihnen in die Stadt zu folgen. Sörensen wurde es stets schwer ums Herz, wenn er hörte, wie herablassend seine eigenen Kinder über jenes Dorf, in dem auch ihre Wurzeln lagen, sprachen. Die ersten selbstständigen Fahrversuche auf dem kleinen Kinderrad entlang der Dorfstraße. Das gemeinsame Grillen an lauen Augustabenden. Hatten sie das alles etwa mittlerweile vergessen?
Auch wenn Sörensen sich manchmal eingestehen musste, dass er sich an dem einen oder anderen Abend hier so ganz allein doch recht einsam fühlte, so kam für ihn ein Umzug auf keinen Fall infrage. Sörensen war der Bürgermeister von Peunitz. Die Dorfbewohner hatten ihn damals vor etwas mehr als zwanzig Jahren zum ersten Mal in dieses Amt gewählt. Seitdem gab es niemanden anderen in dieser Position. Er würde die Verantwortung, die ihm übertragen wurde, niemals freiwillig aufgeben. Alles andere wäre für ihn Verrat.
Es war ein sonniger Mittwochmorgen. Wie jede Woche zu dieser Zeit, stand Sörensen im Badezimmer, um sein mittlerweile recht schütteres Haar sorgsam zu richten und sich die rote Krawatte, die er nur zu besonderen Anlässen trug, um den Hals zu binden.
Schließlich war es kein gewöhnlicher Tag. Wie jeden Mittwoch fand heute die wöchentliche Bürgersprechstunde statt und da war ein dem Anlass entsprechender Kleidungsstil für ihn als Gemeindeoberhaupt selbstverständlich Pflicht.
Eifrig packte Sörensen seine Unterlagen, darunter auch ein Dienstkalender, den er sich jedes Jahr neu in der Stadt kaufte, obwohl er schon seit mehreren Jahren keinen einzigen Termin mehr dort eingetragen hatte, in seine Aktentasche. Sörensen blickte auf die Armbanduhr, die ihm verriet, dass er bereits recht spät dran war. Hektisch holte er die Thermoskanne mit dem frisch gebrühten Kaffee aus der Küche, klemmte sich die Aktentasche unter den Arm und machte sich auf den Weg.
Vorbei am alten Friedhof und der kleinen Dorfkirche mit der mittlerweile verstummten Glocke, eilte er Richtung Dorfkrug.
Er schloss die hölzerne Tür der alten Gaststätte auf, stellte seine Sachen ab und trug die im Foyer stehende sperrige Schiefertafel mit der Aufschrift „Bürgersprechstunde - heute - 10 bis 12 Uhr - “ hinaus auf den Bürgersteig.
Es war Punkt 10 Uhr. Erwartungsvoll setzte sich Sörensen an seinen Platz, die Hände ineinander gefaltet und wartete. Die Zeiger der alten Standuhr in der hinteren Ecke des Raumes drehten bedächtig wieder und wieder ihre Runden. Viertel elf, halb elf, dreiviertel elf, um elf. Der Gong ertönte. Gedankenversunken ließ Sörensen seinen Blick durch den Raum schweifen Auf dem Fensterbrett neben ihm stand ein von Spinnengewebe gezierter Kaktus, der eine kleine weiße Blüte trug. Sörensen betrachtete das aufblühende Leben der Pflanze einen Moment lang selig lächelnd, als ihn ein Klopfen an der Tür aus seinen Gedanken riss.
„Ich möchte ja nicht stören,“ sagte ein junger Mann zögerlich und betrat den Raum, „aber ich habe draußen das Schild gesehen und dachte mir…“
„Kommen Sie doch ruhig näher“, unterbrach Sörensen ihn erfreut und deutete auf den freien Stuhl vor sich hin. Er öffnete sogleich die Thermoskanne, in der Absicht seinem Gast eine Tasse Kaffee einzuschenken, als dieser abwinkte.
„Nein, danke! Ich muss gleich weiter. Meine Familie wartet draußen auf mich“. Der Fremde deutete auf ein Auto, das vor dem Gasthof unter einer alten Eiche stand. „Wir haben uns leider verfahren. Und da ich gesehen habe, dass hier offen ist, wollte ich nur kurz nachfragen, ob sie mir den Weg Richtung Bundesstraße beschreiben können.“
„Ach so,“ erwiderte Sörensen und fühlte einen Anflug von Traurigkeit in sich aufsteigen. Er stockte einen Augenblick, wusste jedoch, dass er den jungen Familienvater nicht im Stich lassen konnte. Er war der Bürgermeister für alle Menschen in Peunitz, auch wenn sich diese nur auf der Durchreise befanden. So beschrieb er seinem Gast schließlich detailliert den gewünschten Weg.
„Danke, das hilft uns sehr.“, erwiderte dieser, verabschiedete sich und stieg wieder zu seiner Familie ins Auto. Sörensen beobachtete einen Moment lang das Auto, wie es hinter dem Ortsausgangsschild wieder aus seinem Blickfeld verschwand. Zurück im Gastraum, schlug die Uhr zwölfmal. Sörensen räumte alles wieder ein, gab dem Kaktus zum Abschied noch etwas Wasser und schloss die Tür hinter sich. Erneut dachte er an den jungen Mann und seine Familie. Ein Gefühl der Zufriedenheit kam in ihm auf. Nächsten Mittwoch würde er wieder zu seiner Bürgersprechstunde herkommen - pünktlich um 10 Uhr.