Der Zitaten-Clown

Anekdote zum Thema Schule/ Studium

von  loslosch

Rudis indigestaque moles (Ovid, 43 v. Chr. bis ~17 n. Chr.; Metamorphosen). Eine rohe und unbehauene Masse.

Eine Textstelle bei Ovid zur Beschreibung des Chaos. Auszug: Vor dem Meere, dem Land und dem alles bedeckenden Himmel zeigte die Natur in der ganzen Welt ein einziges Antlitz. Chaos ward es benannt; eine rohe, unbehauene Masse (zitiert im Wesentlichen nach Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, dritter Band, S. 1254).

Jock (im Selbstbild: "Mein Name ist Jock, Jott-O-Ce-Ka"), unser Französisch-Lehrer anno 1959 (sit terra levis, sei ihm die Erde leicht) rief schon mal, wenn es ihm zu laut erschien, wutentbrannt in die Obersekunda hinein:

"Diese gesta quae moles!"

Alle rätselten. Keiner hatte die (vermutete) Invektive verstanden. Jock aber schwieg eisern. Erst 46 Jahre später, im Zeitalter der Internet-Suchmaschinen, fanden rührige alte Herren die Entschlüsselung (s. o.). Offen muss bleiben, ob Jock das Zitat seinerzeit absichtsvoll verstümmelte oder ob er es einfach nicht besser gewusst hat. Indizien für das letztere liefert eine kleine Anekdote in der Anekdote: Ein Oberklässler und unfreiwilliger Jock-Schüler erteilte Nachhilfeunterricht einem Schüler des benachbarten Gymnasiums Dierdorf, wo Jock kurz vorher sogar Latein unterrichtet hatte, bevor er nach Montabaur gewechselt war. Das allein spräche für die absichtsvolle Verstümmelung (Variante 1).

Andererseits hatte Jock in seiner neuen Wirkungsstätte die bohrenden Fragen eines äußerst wissbegierigen Oberklässlers nach lateinischen Ursprüngen französischer Wörter einmal lapidar beschieden: "Weiß ich nicht. Von Latein verstehe ich nichts." (Hier hätte der biblische Hahn dreimal in Folge krähen müssen.) Das wiederum spricht  für Variante 2: Er hat es - selbst als ehemaliger, nun sich selbst verleugnender Lateinlehrer - einfach nicht besser gewusst.

De mortuis nihil nisi bene (Chilon von Sparta). Über die Toten nur in gütiger Weise (reden). - Glänzend misslungen.

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Kommentare zu diesem Text


 Bergmann (03.12.10)
Ja. Dein Text zeigt einige Verklärung deines Lehrers. Da bin ich mal gespannt, was da so auf mich noch zukommt. Schüler neigen sehr gern dazu, ihre Lehrer zu überschätzen. Die Gründe liegen nahe: Lehrer sind den Schülern meist überlegen. Wichtiger: Über seine großartigen Lehrer ist das (indirekte) Selbstlob glänzend maskiert, oft sicherlich ungewollt. ...

 loslosch meinte dazu am 03.12.10:
Bei mir ist die Gefahr der Verklärung eher gering. Ich versuche, mit der Erfahrung meines Lebens die Schwächen im Nachhinein auszuleuchten, aber auch die Stärken der anderen (!) Pädagogen. Kaum zu glauben: Heute nacht träumte ich von einem Telefonat mit meiner längst verstorbenen hochverehrten Lateinlehrerin. Sie meinte, man brauche im Ruhestand bis zu 10 Jahren, um in den befreiten Schlaf-Wach-Rhythmus zu finden. Uli, wenn das stimmte, hättest Du nicht in tiefer Nacht kommentiert. Lothar

 Bergmann antwortete darauf am 03.12.10:
Bester Lo, ich war immer schon ein Nacht-Mensch! - Zu deiner Rechtfertigung, Schwächen heute auszuleuchten: Der Lateinunterricht ist systematisch, wenn auch ungewollt, zerstört worden. Grammatikunterricht in den Fächern Deutsch, Englisch, Französisch ... findet am Gymnasium statt wie eh und je. Die gesellschaftlichen Kontexte und das technische Umfeld samt Kommunikationsformen und -mitteln sind völlig verändert im Unterschied zu deiner (und meiner) Schulzeit. Dass es Lehrer damals viel leichter hatten, Schüler in der Sprache auszubilden und zu bilden, liegt auf der Hand, zumindest was grammatische Richtigkeit und hochsprachliche Stilistik angeht. ABER: Überlegenswert wäre auch die Erinnerung an das, was unsere Lehrer im Unterschied zu heutigen nicht konnten oder wollten! Die Ausbildung des gesellschaftlichen Bewusstseins im Geist einer bildungsbürgerlichen Haltung, der soziale Inzest damals! Heute werden kommunikative Fähigkeiten im Zusammenhang individualpsychologischer Entwicklung viel mehr gefördert. Tugenden werden nicht anbefohlen und starr eingeklagt, sondern es gibt längst an den Schulen einen Diskurs im Miteinander. So beklagenswert manchmal sprachliche Defizite heute sind - dem steht gegenüber, dass bald nicht mehr nur 5-10 Prozent eines Jahrgangs zum Abitur geführt werden, sondern bald 40 Prozent mit steigender Tendenz! Der Anteil der an Literatur und Sprache wirklich Interessierten ist nicht gesunken, vielleicht auch nicht gestiegen.
Aber Transparenz, Informationsbeschaffung und Selbstbildungsmöglichkeiten sind FÜR JEDEN segensreich ins Unermessliche gestiegen! Fast vorbei sind die Zeiten, wo vermeintliche Alphawesen Zitate von Schiller, Goethe, Homer, Sophokles, Vergil, Shakespeare - oft in der Originalsprache - von weisen spitzen Lippen ins unverständige Volk herab wisperten.
Ich singe das Lob unserer heutigen Schulwirklichkeit. Ich denke nicht, dass ein besserer Latein- und Grammatikunterricht die Einsteins und alle die Göttinger Nobelpreisträger hervorbrachte.
(Ich lobe aber natürlich trotzdem deine Lotinos, die sind eine Bereicherung!)
LG, Uli
(Antwort korrigiert am 03.12.2010)

 loslosch schrieb daraufhin am 03.12.10:
Kein Einspruch. Zu den Alphatierchen noch. Der 80-jährige Geissler, dem ich das so nie zugetraut hätte, benutzte Latein zur ironischen eigenen Wissensdemo; hier aus www das kopierte Zitat aus seinen Schlichtungsversuchen zu Stuttgart 21:

"Nondum omnium dierum solem occidisse." (deutsch: "Es ist noch nicht aller Tage Abend.") - Philipp von Mazedonien, nach Titus Livius, Ab urbe condita 39, 26, 9. Die Zuhörer waren erheitert und beeindruckt. Lo

 Bergmann äußerte darauf am 03.12.10:
Geissler ist ein schöner Fall für angebrachtes Zitieren!
(Mein Gott, wenn ich bedenke, was für eine Dreckschleuder er zu Beginn der Ära Kohl war!)
LG, Uli

 loslosch ergänzte dazu am 03.12.10:
Geissler hatte sich damals geschickt herausgewunden. Hier aus Wiki kopiert:

In einer Bundestagsdebatte zum NATO-Doppelbeschluss und zur Stationierung von Pershing II-Raketen am 15. Juni 1983 nahm Geißler zu einem Spiegel-Interview[2] Stellung, in dem die Grünen-Abgeordneten Otto Schily und Joschka Fischer den ihrer Ansicht nach durch die Raketenstationierung drohenden Atomkrieg mit Auschwitz verglichen hatten:[3]

„[…], die Massenvernichtung in Auschwitz gedanklich in Verbindung zu bringen mit der Verteidigung der atomaren Abschreckung eines freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats, dies gehört ebenfalls in das Kapitel der Verwirrung der Begriffe und der Geister, die wir jetzt bestehen müssen. Herr Fischer, ich mache Sie als Antwort auf das, was Sie dort gesagt haben, auf folgendes aufmerksam: Der Pazifismus der dreißiger Jahre, der sich in seiner gesinnungsethischen Begründung nur wenig von dem heutigen unterscheidet, was wir in der Begründung des heutigen Pazifismus zur Kenntnis zu nehmen haben, dieser Pazifismus der dreißiger Jahre hat Auschwitz erst möglich gemacht.“

Geißler bezog sich dabei auf die Appeasement-Politik der europäischen Westmächte. Während diese Äußerung von Befürwortern der Raketenstationierung verteidigt wurde, warfen einige Abgeordnete anderer Fraktionen Geißler u. a. „Geschichtsklitterung“ vor. So fragte die linksliberale FDP-Abgeordnete Hildegard Hamm-Brücher in diesem Zusammenhang, „was denn der Pazifismus mit dem Judenhass in Deutschland zu tun habe“. Geißler selbst betonte später in einem Interview mit dem NDR, mit seiner Bemerkung habe er die pazifistischen Strömungen in Frankreich und England gemeint, deren Appeasement-Politik Hitler ermutigt habe, „andere Länder zu überfallen und seine rassistische Politik bis zum Massenmord auszutoben“.[4]

Damit hatte er der Kritik den Boden entzogen. Stimmt, er gebärdete sich als Dreckschleuder. Welch wundersame Wandlung (attac). Lo

 Bergmann meinte dazu am 03.12.10:
Heute liest sich die Polemik mit Auschwitz anders als damals. Sie war aber auch damals nicht genau genug, d. h. Geissler wusste genau, dass sein Argument anders konnotiert würde und die Neupazifisten verunglimpfen sollte. Solche Sätze erinnern an Talleyrand, der einmal sagte, er würde für ein gutes Aperçu den Verlust eines Freundes in Kauf nehmen...

 loslosch meinte dazu am 03.12.10:
Diesen Thread sollten die Jüngeren lesen. Ich weiß, dann bekomme ich Leseaufrufe ... Lo

 Bergmann meinte dazu am 03.12.10:
Hö? Meinst du?
Wir können den Dialog auch als Kolumne - ?
Hzlst, Uli

 loslosch meinte dazu am 03.12.10:
... fortsetzen? Mal sehen, wer sich hier zu Wort meldet. Lo

 Bergmann meinte dazu am 04.12.10:
Na ja, die Diskussion ist wohl schon gelaufen...
wishfulthinking (45)
(03.12.10)
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 loslosch meinte dazu am 03.12.10:
Neugier und tiefen Groll. Ein Mitschüler, der dann ebenfalls Französischlehrer wurde, sieht den verstorbenen Herrn mit den gleichen Augen. Jock soll nach dem frühen Tod seiner Frau deren Schwester geheiratet und als Pädagoge sich um 180 Grad gedreht haben, vom Giftzwerg zum liebenswürdigen Erzieher. Sachen gibts! Lothar

 Didi.Costaire (03.12.10)
Moin Lothar,
was juckte es den Jock, wenn Jack und Jones ihn jeck nannten...
Das Google-Halbwissen der Schüler hatte er nicht gegen sich.
LG, Dirk

 loslosch meinte dazu am 03.12.10:
Bei dem jecken Jock übten wir Sätze wie "Ne le lui aurait-il pas donné?" (auf deutsch, zur besseren Abschreckung): "Würde er es ihm nicht gegeben haben?" Da erfährt man viel über die korrekte Wort- und Satzstellung. :) Lothar
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