Karla

Text zum Thema Kinder/ Kindheit

von  Gabyi

Sie kam in meine Klasse, weil sie sitzengeblieben war. Ich kannte sie schon vorher von meiner Freundin Anke. Die war eine Klasse höher als ich, weil auch ich sitzengeblieben war. Im Kurzschuljahr, wo man es nicht mehr schaffte, Saisonarbeiter zu sein.
Karla hatte große vorstehende Zähne, eine Art Pferdegebiss oder einen Überbisss, Sie erzählte mir immer wieder, dass sie sich umbringen wollte. Als Kind ist man noch nicht so weit entwickelt, so etwas ernst zu nehmen. Ich tat es jedenfalls nicht und erzählte es auch niemandem. Dann nahm Karla eine Überdosis Aspirintabletten und überlebte - natürlich. Sie hatte vorher in Detmold gewohnt. Dann wurde ihr Vater in meine kleine Hafenstadt versetzt. Er war bei der Bundeswehr/Marine Soldat. Ich sah bei ihr zuhause die ZDF-Hitperade mit Dieter Thomas Heck ("Something's gotten hold of my Heart" mit Gene Pitney) und hörte Schallplatten von Peter und Gordon bei ihr.
Im Sommer am Strand bekamen Karla und ich einen Sonnenbrand. Zuerst wurde unsere Haut knallrot und am nächsten Tag pellte sie ab. Ich konnte mich nicht zügeln, ihre Hautfetzen abzureißen, obwohl sie es nicht wollte und vehement protestierte und “Nein!” schrie.
Dann nahmen ihre Eltern sie vom Gymnasium und sie begann in Hamburg im Postscheckamt eine Ausbildung. Sie besuchte mich noch manchmal und ich stellte fest, dass sie neue, modernere Kleidung trug. Sie sagte dazu “Klotten” im schönsten westfälischen Slang. Bei ihrem letzten Besuch sagte sie zu mir: “Ich habe dich schon immer gehasst!”. Ich wusste aber nicht warum. Vielleicht wegen der Hautfetzen?


Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Zur Zeit online: