Bubble Trouble: Der Bart, der canceln wollte

Roman

von  Isensee

I. Hopfen und Zweifel – Die Einleitung des Abgrunds

Janosh saß in dem tristen, schattigen Raum – das, was der Berliner als „Wohnung“ betitelte, während er sich selbst als „individuelle Entität“ in einer Welt voller „Gleichmacher“ verstand. Die Wände seines Hinterzimmers waren ein Sammelsurium aus billigen Regalen, überflüssigen Pflanzen und Plattenhüllen, die eine Illusion von Kultiviertheit vermittelten, ohne tatsächlich etwas zu bedeuten. Auf dem Tisch davor stand eine Flasche seines selbstgebrauten „Melancholia Brutal“, dessen Bitterkeit so authentisch war wie der Hohn, der in seinem Inneren wuchs.

„Ich bin anders, ich bin mehr“, dachte Janosh, während der Hopfen seine Kehle hinabglitt. Die Substanz war weniger von Bedeutung als die Geste – ein Akt der Selbstbestätigung. Podcasts, Bücher und Pseudo-philosophische Diskussionen über „Individualität“ – das war Janosh' Universum. Doch während er in diese intellektuellen Abgründe versank, fiel ein seltsames Geräusch auf. Eine tiefere, dunklere Stimme drang an sein Ohr. Es war die Stimme des Barts.

„Glaub nicht, du bist mehr als die Masse, du Witzbold. Was machst du hier, außer dich selbst zu betrügen?“

Janosh erstarrte. Die Worte hallten in seinem Kopf wider. Der Bart, der sich in den letzten Wochen zu einem eigenständigen Wesen entwickelt hatte, sprach nun mit einer unglaublichen Klarheit. Und dieser Akzent – rau, wie der Wind in den staubigen Straßen von Chemnitz.

„Was zur Hölle...?!“ Janosh fluchte und starrte in den Spiegel, doch der Bart starrte zurück. Es war, als ob er sich in den letzten Nächten unter der Oberfläche seines Kinns entwickelt hatte. Das, was er lange nur als Teil seiner Identität akzeptiert hatte, war nun zu einem eigenen Organismus geworden.

„Du bist ein Witz, Janosh. Glaubst du wirklich, dass diese ganzen Podcasts, dieses Gelaber über Selbstverwirklichung und Rebellion gegen das System dich von ihnen unterscheidet? Glaubst du wirklich, du bist hier der Rebell? Du bist nichts weiter als ein weiterer Hipster, der sich in die Bedeutungslosigkeit stürzt.“

„Schau, ich will das nicht! Ich bin nicht wie die anderen!“ Janosh versuchte sich zu wehren, doch die Worte des Barts trafen ihn hart.

„Du bist wie jeder andere, der glaubt, er könnte die Welt verändern, nur weil er auf einer gebrauchten Platte von ‚Joy Division‘ abhängt. Du hast dich selbst in eine Ecke gesetzt, die keine Ausfahrt hat. Du bist der Abklatsch der Leute, die du verachtest.“

Der Bart hatte ihn durchschaut. Er hatte seine Blase durchbrochen, den Vorhang gelüftet. Janosh begann zu zweifeln, begann zu wanken. Und in diesem Moment wusste er – der Bart war mehr als nur ein Haar. Er war ein Spiegel seiner innersten Ängste und Schwächen.


II. Der Bart schlägt zurück – Der Verfall des Selbst

Es dauerte nicht lange, bis sich das Problem vertiefte. Der Bart wuchs, ja, aber nicht nur in Länge. Er wuchs in Janosh' Bewusstsein, in seinen Gedanken, in seinen Taten. Die feinen, fast unmerklichen Veränderungen begannen, Janosh zu verändern.

Die ersten Monate waren ein langsames Zerren. Zuerst trug Janosh noch stolz den Bart, als Zeichen seiner „Echtheit“. Doch als der Bart sich mit ihm unterhielt, als er begann, in Janoshs Körper zu schlüpfen und seine Gedanken zu durchdringen, war es, als ob er zu einem völlig neuen Wesen geworden wäre. Der Bart wurde zu einer Macht, gegen die Janosh nicht mehr ankämpfen konnte.

„Schau dich mal an, du Arschloch“, sagte der Bart an einem Abend, als Janosh sich mit seinen Freunden in einer dieser hippen, überfüllten Bars traf. „Was hast du da an? Ein T-Shirt ohne Print? Glaub nicht, du kannst damit durchkommen.“

„Was, du... was redest du da?“ Janosh reagierte aufgebracht. Doch die Worte des Barts hatten bereits eine Saat des Zweifels gepflanzt. Während seine Freunde über vegane Ernährung und das neueste Indie-Album diskutierten, zog Janosh das T-Shirt enger an sich und fragte sich, ob es nicht das Letzte war, was er noch an „Individualität“ besaß.

„Du hast keine Ahnung, was du da redest“, sagte einer seiner Freunde, als Janosh zum ersten Mal etwas sagte, das nicht „ironisch“ war.

„Du bist jetzt wohl konservativ, was?“, fragte der andere. „Du trägst plötzlich Klamotten, die kein Statement machen. Was ist mit dir los?“

„Ja, was ist los mit dir?“, fragte der Bart laut, als Janosh sich von der Gruppe abwandte. „Du versuchst gerade, dich zu verstecken, aber du bist nicht anders, du bist einfach nur schwach.“

Janosh fühlte sich, als wäre er in einem schwarzen Loch gefangen. Der Bart, immer noch an ihm, quälte ihn. Was war er jetzt? Der Typ, der früher als „der durchgeknallte Individualist“ galt, war nun der Typ, der im Bart gefangen war, ein Sklave seiner eigenen Unsicherheit.


III. Bart oder Bewusstsein? – Die letzte Schlacht

Es war der Moment der Wahrheit. Janosh stand vor dem Spiegel, die Rasierklinge in der Hand. Der Bart lachte ihn an, größer und lauter als je zuvor. „Glaub nicht, du kannst mich einfach so abschneiden. Ich bin mehr als nur ein Teil von dir. Ich bin du. Du bist nichts ohne mich. Du bist der Bart, und der Bart ist du.“

„Scheiß auf dich!“, brüllte Janosh, doch der Bart antwortete mit einem bösartigen Lächeln, das ihm fast den Atem raubte. „Du wirst nie frei sein, Janosh. Du hast dich zu sehr auf mich verlassen, um dich davon zu befreien.“

Aber Janosh wusste es. Er musste es tun. Es war nicht nur der Bart, den er schnitt. Es war sein altes Leben, seine Selbsttäuschung, seine Unfähigkeit, die Wahrheit zu akzeptieren.

Er setzte die Klinge an, und der Bart fiel. Ein Tropfen Blut, gemischt mit Philosophie. Der Bart landete in seiner Bierflasche, als ein letzter, absurder Akt der Rebellion gegen sich selbst. Die Scherben seines alten Selbst. Der Bart – das Symbol seines Kampfes – war nun eine Leere, die er füllen musste.


IV. Ende oder Anfang?

Der neue Janosh ging aus der Wohnung, ohne genau zu wissen, wohin. Doch eines war klar: Die Welt, die er jetzt betrat, war nicht mehr die gleiche. Keine Blase, keine Fassade – nur er selbst, nackt und bloß, auf der Suche nach einer neuen Bedeutung, die er sich selbst geben musste.

Denn wer er nun war, wusste er nicht. Doch der Bart? Der Bart war Geschichte.





Anmerkung von Isensee:

Ein absurder, böser, kluger, zutiefst deutscher Text.
Ein Bartstück in sieben Bieren.
Eine existenzielle Satire mit bleibendem Nachgeschmack.
Oder wie der Bart sagen würde:
„Ironie is’ och bloß’n Friseur mit Philosophiestudium

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Kommentare zu diesem Text


 AchterZwerg (25.04.25, 07:56)
"Du bist der Bart, und der Bart ist du.“

Allein für diese göttergleichende Anspielung gebührt dir ein leuchtender Stern!
Der andere aber für den Gesamttext. - Selten habe ich etwas Witzigeres auf dem autobiographischen Markt gelesen. Vor allem deshalb gut, weil ihm nicht der erforderliche Spritzer Melancholie fehlt.

<3 :D

 Isensee meinte dazu am 25.04.25 um 22:37:
Danke für das liebe Feedback! Es freut mich, dass der Humor und die Reflexion in einem soliden Gleichgewicht zwischen Witz und Wehmut gefallen. Vielleicht gibt es bald noch mehr „Bartstücke“ in der Pipeline – wer weiß, was für Haariges da noch auf uns zukommt. ;)

Bleib ein weiser Zwerg, der über die Köpfe hinausblickt!

 Tula (25.04.25, 22:14)
Hallo
Ich vermute, Janosh zog, endlich vom lästigen Bart befreit, kurze Zeit später in ein Literaturforum und entlarvte dort allabendlich das verruchte System.

PS: ganz schön mühselig, die Fussel alle in eine Bierflasche zu stopfen

Als literarische Kritik: der zweite Teil könnte inhaltlich stärker sein, d.h. im Sinne des Spannungsbogens bzw. der dramatischen Zuspitzung des Konflikts

LG Tula

 Isensee antwortete darauf am 25.04.25 um 22:39:
Hallo Tula,
das mit dem Literaturforum ist ein fantastischer Gedanke! Janosh als Aufdecker der tiefen Mysterien des „verruchten Systems“ – vielleicht der perfekte Ort für seine neue, noch brachialere Existenz. Und ja, die Bierflasche ist sicher ein echtes organisatorisches Problem, vor allem bei der Fülle an Haaren und Bierphilosophie.
Was den zweiten Teil angeht – du hast vollkommen recht, dass der Spannungsbogen da noch ein paar Schichten vertragen könnte. Janosh' Verfall könnte noch etwas mehr Intensität vertragen, vielleicht könnte der Bart zu einem immer erdrückenderen Zerrbild seiner Selbstwahrnehmung werden. Da ist noch viel Raum für dramatische Zuspitzung, die den Leser noch tiefer in diese haarsträubende Metamorphose ziehen könnte.
Danke dir für das scharfsinnige Feedback! Dein Blick auf die Struktur ist Gold wert – mal sehen, wie ich den Bart als nächstes „nachschneide“.
LG zurück!
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