Migration, Nationalismus und der deutsche Blick gen Osten
Der Fernsehsender Arte veröffentlichte unlängst die Dokumentation „Polen: Das neue wirtschaftliche Herz Europas“. Interessant hierzu sind die Beiträge in der Kommentarspalte – neben viel Lob für den Fleiß der Polen, kommen auch immer wieder rassistische und nationalistische Stimmen zu Wort, die Polen als Land loben, das keine Migration zulasse und keinen Sozialstaat habe, der zu Faulheit und Schmarotzertum verführe. Mit anderen Worten: in Polen würden noch traditionelle Werte gelten, wogegen Deutschland linksversifft und verdorben sei. Immer wieder wird darauf eingegangen, dass Polen im Rahmen der Flüchtlingskrise keine Migranten aufgenommen habe.
Es ist interessant, wie hier einige Kommentierende die Polen loben und gleichzeitig gegen Migranten hetzen. An polnischen Migrantinnen und Migranten scheinen sich aber nicht zu stören. Die Nachbarn aus dem Osten scheinen heute in Deutschland willkommen zu sein, aber das war hierzulande nicht immer so. Nach der Wende in den 1990er-Jahren, als viele Polinnen und Polen nach Deutschland kamen, um dort zu arbeiten, schlug ihnen vielerorts eine Welle des Hasses und der Ablehnung entgegen. Rassistische Beleidigungen („Polaken“) und antipolnische Witze („Kaum gestohlen, schon in Polen“) waren an der Tagesordnung.
Dieser abwertende Blick aus deutschen Landen gen Osten ist nicht neu. Er findet sich bereits im 18. Jahrhundert – zu einer Zeit, als die damalige polnisch-litauische Adelsrepublik durch die egoistische Politik ihrer Magnaten eine Zeit des Niedergangs erlebte. Faulheit, Trunkenheit, Unreinlichkeit waren Eigenheiten, die man schon damals den Polen vorhielt. Von der „polnischen Wirtschaft“ sprach man im deutschsprachigen Raum bis weit ins 20. Jahrhundert hinein abschätzig, wenn es um den östlichen Nachbarn und der schlechten wirtschaftlichen Situation dort ging.
Mit dem aufkommenden Nationalismus im 19. Jahrhundert erreichte die Arroganz gegenüber den durch Bürgerkriege, Korruption und schließlich durch Aufteilung und Fremdherrschaft leidenden Nachbarn, der in der frühen Neuzeit und noch eine geachtete Großmacht dargestellt hatte, eine rassistische Dimension, die in der nationalsozialistischen Besatzungs- und Kolonialpolitik ihren grausamen Höhepunkt fand: Polen, Russen und andere slawische Nationen galten als rassisch minderwertige Untermenschen, die im NS-Staat bestenfalls als ungebildete Sklavenarbeiter eine Daseinsberechtigung hatten. Unter deutscher Besatzung wurden Universitäten, Theater und Opernhäuser geschlossen und Kulturgüter geplündert, die polnische Intelligenz wurde planmäßig ermordet. Mit ihrer Vernichtungspolitik wollte das NS-Regime alle negativen Stereotype Realität werden lassen. Den Polen sollte nicht nur ihre Freiheit, sondern ihre Kultur und Würde genommen werden.
Antipolnische und -slawische Stereotype überlebten den Zweiten Weltkrieg. Sie waren auch nach der Wende noch sehr lebendig und wurden an deutschen Stammtischen ebenso gepflegt wie in rechtsextremen Kreisen. Inzwischen scheint hier jedoch teilweise eine Veränderung eingetreten zu sein. Während heute viele Rechtsextreme im Russland Putins einen Verbündeten gegen Liberalismus und linke Ideen sehen, zeigen die Kommentare unter der Arte-Dokumentation einen neuen, verklärten Blick auf Polen. Alte Kontroversen, wie etwa zu den ehemaligen deutschen Ostgebieten, sind zumindest aktuell in den Hintergrund getreten.
Der neuen Rechten ist der Kampf gegen den Islam und Migranten offensichtlich wichtiger als der Antislawismus des kaiserlichen Preußens und der Nationalsozialisten. Dass sich in der Bevölkerung allgemein ein positiver Blick auf die Polen verbreitet hat, mag zu großen Teilen mit den vielen polnischen Pflegekräften, Handwerkern und Facharbeitern zu tun haben, ohne die hierzulande an vielen Stellen nichts mehr funktionieren würde. Auch Umfragen, etwa von der Bertelsmann-Stiftung im Jahr 2013, lassen auf einen allmählichen Rückgang antipolnischer Stereotype in Deutschland schließen. Hass und Rassismus aber sind damit nicht verschwunden, sie richten sich nur gegen andere Gruppen, wie Türken, Syrer, Afghanen und Muslime im Allgemeinen. Muslimfeindlichkeit und antimuslimischer Rassismus bilden spätestens seit den Terroranschlägen vom 11. September einen Schwerpunkt rechtsextremistischer Agitation und sind auch in konservativen Kreisen zu finden.
Dass Polen bisher kein Immigrations-, sondern ein Emigrationsland gewesen ist, hat zwei wesentliche Gründe: Zum einen hat das Land bis in die 1980er-Jahre eine hohe Geburtenrate gehabt. Das Land verfügte also bis in die jüngere Vergangenheit über einen ausreichend großen Pool an eigenen Arbeitskräften. Zum anderen ist der Wirtschaftsboom vor allem ein Phänomen des 21. Jahrhunderts, die Grundlagen der heutigen wirtschaftlichen Stärke des Landes wurden also maßgeblich in den vergangenen Jahrzehnten gelegt.
Wie die Bundeszentrale für politische Bildung berichtet, ist die Geburtenrate in Polen im Jahr 1988 auf unter 2,1 Kinder pro Frau gesunken. Dieser Rückgang setzte sich weiter fort, heute liegt die Geburtenrate beim östlichen Nachbar bei rund 1,4 Geburten und damit in etwa auf dem bundesdeutschen Niveau. Parallel zu diesem Schrumpfungsprozess sind das Wohlstands- und das Bildungsniveau, vor allem bei Frauen und der Grad der Urbanisierung gestiegen.
Ein weiterer Indikator für den Wandel einer Gesellschaft ist das Verhältnis zur dort vorherrschenden Religion. Polen ist nach wie vor eine Hochburg des Katholizismus, die Bindung zur römisch-katholischen Kirche seit Jahrhunderten Kernbestand kollektiver Identität. In den vergangenen Jahren lässt sich jedoch ein Rückgang an Religiosität beobachten. Bezeichneten sich laut der Bundeszentrale für politische Bildung im Jahr 1991 noch 92 Prozent der erwachsenen Bevölkerung als religiös, sind es heute noch 84 Prozent, bei jüngeren Polen liegt deren Anteil bereits bei unter 80 Prozent.
Säkularisierung, Urbanisierung, steigende Bildung und Wohlstand und schrumpfende Geburtenraten – Polen ist, anders als dies zu Lebzeiten des polnischen Papstes Johannes Paus II., manch Gelehrter dachte, nicht „immun“ gegen Säkularisierung und andere Phänomene, die mit der Moderne einher gehen.
Mit einer schrumpfenden Bevölkerung bei wachsendem Wohlstand wird die polnische Wirtschaft in absehbarer Zeit ihr inländisches Reservoir an Arbeitskräften ausgeschöpft haben und der Nachbar im Osten seine Grenzen für ausländische Arbeitskräfte vermehrt öffnen müssen. Da aber die Geburtenrate in allen Staaten Osteuropas schrumpft, werden diese Arbeitskräfte in zunehmendem Maße aus anderen Regionen der Welt kommen. Wie die Tageschau im vergangenen Jahr berichtet hat, steigt die Zahl der Migranten aus nichteuropäischen Ländern bereits an, auch wenn die Regierung unter Donald Tusk in der Migrationspolitik derzeit noch eine restriktive Linie fährt. Dass Polen ein religiös und kulturell pluralistischeres Land wird, ist eine Frage der Zeit.
Jene, die heute in Deutschland über Polen als ethnisch homogenes Land mit konservativ-traditionellen Werten schwärmen und gegen andere Migrantengruppen hetzen, ignorieren vollständig die historischen Hintergründe für die gegenwärtige Verfassung der polnischen Gesellschaft und auch die Brüche, die dort seit der Wende immer stärker zutage treten. Sie werden sich außerdem bald daran gewöhnen müssen, dass Handwerker und Pflegekräfte aus weit entfernten Ländern mit nichtweißer und nichtchristlicher Bevölkerung immer häufiger nach Deutschland kommen. Immerhin zeigt das polnische Beispiel, dass die deutsche Gesellschaft lernfähig ist, wenn es um den Blick auf Angehörige anderer Nationen geht.