rooms

Erzählung

von  minze

Erst als ich den Konferenzraum verlasse, realisiere ich, dass ich nun im achten Stockwerk war. Ich meine mich zu erinnern, dass die letzten Male die Abstimmungsgespräche im dritten Stock waren, die Behörde belegt auch den zweiten Stock, dort sind aber die einfachen Mitarbeiter, die sich um die Abläufe des Alltagsgeschäftes kümmern, die Vorgesetzten, auch meine, sind immer im dritten Stock gewesen. Mit einem Mal sind wir weit über der Stadt und man kann weitläufiger das Bahnnetz betrachten, was sich vom nahe gelegenen Bahnhof hier in verschiedene Richtungen hinentwickelt, eng geführt zunächst, dann aber doch deutlich sich ausdifferenzierend, sich spreizend, auch zum Nachbarland hin.


Ich bin, traumähnlich, im Treppenhaus gelandet und warte auf den Fahrstuhl, spüre aber eine Arretierung, eine Warnung. Ich gehe nicht in den Lift, ich spüre, dass ich nicht hinein gehen sollte. Ob es eine Gefahr bedeutet, einen grundsätzlich möglichen Ausfall, es eine unangenehme Begegnung für acht Stockwerke Fahrt würde oder eine allgemeine Enge im Brustkorb auslösen würde – alle sich anschleichenden Möglichkeiten durchschlängeln meinen losen Vorstellungsraum, ohne, dass sich ein wirklich fassbarer Grund verdichtet.



Ich habe meine Akten fest unterm Arm, das Gespräch war erfolgreich, ich hoffe, die Personalressourcen mit meiner Argumentation halten zu können, auch noch zum Ende des Kalenderjahres hin, wenn die wesentlichen Entscheidungen dann wirklich getroffen werden. Dass unsere Zukunft in die Richtung geht, wie noch gerade vorgestellt. Ich fühle, dass es richtig gut werden kann. Es hat sich richtig angefühlt und doch war ich erstaut über ihre Bereitschaft, meinem Plan zu folgen. Sie waren kritisch, aber bestätigend. Es ist vielleicht auch das Glück darüber, dass sie uns nicht wegstreichen von der Landkarte, dass wir weiterhin etwas im Landkreis bedeuten. Dieses Glück möchte ich nicht gefährden, nicht durch eine diffuse Gefahr, die vom Fahrstuhl ausgeht.


Wenn ich die Akten zu fest an mich drücke, dann könnte ich Aufmerksamkeit oder Argwohn auf mich lenken, das Risiko wird kleiner, wenn ich das Treppenhaus nutze. Die Enge zwischen meines Armes und der Akten wird nicht so nicht multipliziert durch den engen Fahrraum.


Wahscheinlich gibt es kaum jemanden, der das Treppenhaus hier nutzt. Es reizt mich auch deswegen leicht. Andererseits ist das Risiko per se nun viel, viel größer, weil das Hochaus auf einmal so angewachsen ist, so unerwartet viele Stockwerke in sich birgt. In den letzten Jahren habe ich diese Gedanken nicht verfolgen müssen, als es nur um die drei Stockwerke ging.





Als ich die ersten Stufen nach unten gehe, spüre ich, dass die Furcht mich auch jetzt begleiten wird, auch, wenn ich aus Furcht die Entscheidung getroffen habe, die Treppen dem Fahrstuhl vorzuziehen, fürchte ich mich noch immer, fürchte ich mich grundsätzlich. Denn das Lauern einer Gefahr ist nun ganz prinzipiell da, der Raum des Unbestimmten besteht allein deswegen, weil sich die Beschaffenheit der Umstände sich auf ungewohnte Weise verändert haben.


Wenn ich dem Fahrstuhl entgehe, muss ich mich dem Treppenhaus aussetzen. Und als ich los gehe, lasse ich mich ganz bewusst auf jedes der sieben Stockwerke ein, was ich durchschreiten muss.


Ich bin gefasst und doch auch in einer frohen Erwartung, als ich mir noch einmal vergegenwärtige, dass es eine Entscheidung ist, die ich getroffen habe.




Was passiert, passiert entgegen allem, was ich mir vorstelle.



Jedes Stockwerk ist offen, entweder ohne Durchgangstüre oder einer mit Verglasung, es sind alles Privatwohnungen, ich bekomme das Gefühl, dass die Bewohner die Entscheidung getroffen haben, ob sie vom Treppenhaus den Zugang ganz offen lassen, oder eine Glastüre einbauen lassen. Gut möglich ist auch, dass sie die Entscheidung nicht frei treffen konnten. Dass es abhängig von ihrem Einkommen ist, von den finanziellen Möglichkeiten, ob wenigstens eine gläserne Trennung, ein akustischer Schutz, realisierbar ist.


Genau genommen komme ich nicht an klassichen Wohnungen vorbei, es scheinen riesige Wohngemeinschaften zu sein, auf ein Stockwerk verteilt, sie haben Wohnheimscharakter, manchmal wirken auf mich die Zimmer, in denen meist zwei oder drei Personen sind, aber auch wie Zellen. Ich sehe sie wie Ameisen, sie haben alle ihr Eigenleben in den Zimmern, sie sind beschäftigt, nicht unbedingt in Bewegung, aber auch wenn sie ruhig sind, einige liegen auf den Betten, welche vor allem die Räume möblieren, so sind sie auch damit sehr beschäfigt. Die, die also liegen, scheinen sich von einer Anstrengung zu erholen, sie sind eingeigelt, sie strecken sich, sie verstecken sich vorm Tag in der Decke, als würden sie einen lang ersehnten Schlaf nachholen, als würden sie seit langem versuchen, zu schlafen, oder als müssten sie sich von den inneren Dämonen beruhigen, als würden sie ohne Willen außer Gefecht gesetzt sein. Es sieht mir aus, wie eine Aufgabe.


Manche bewegen sich auch zwischen den Zimmern, ich sehe keine Gemeinschaftsräume, obwohl ich sie suche, alle Stockwerke durch, die ich sehe, sie ähneln sich alle in dieser Intimtität, in dieser Geschäftigkeit, alle in der Bewohnheit und in dem Wohnheimscharakter. Ich suche nach den Küchen, nach dden Badezimmern, einem Duschraum.


Ich stelle mir diese Räume umso intensiver vor, als das sich sie nicht erkennen kann. Vielleicht ist die Sichbarkeit der Schlafzimmer, der Schlafzellen so exponiert für die Menschen, die wie ich das Treppenhaus nehmen, dass die Räume, die für Kochen, Körperhygiene und Vorräte, nicht den sichtbaren Raum einnehmen können. Das Wesentliche für die Besucher, für die Betrachter, soll wohl diese Intimität sein, die einen aufsaugt, die auch die Zeit und den Raum verstreichen lässt, ohne dass man sich bewusst werden kann, wie lange man schon die Menschen betrachtet, sich fragt, was sie bewegt, womit sie so intensiv in ihrer Liegehaltung, im Lesen, im Kauern vor und auf den Betten beschäftigt sind.


Es gibt auch ein paar, die onanieren und miteinander schlafen, manchmal zwei oder drei, manchmal liegt ein anderer noch im Zimmer, wendet sich ab und hört Musik mit Kopfhörern, befindet sich in seiner Beschäftigung. Die meisten Zimmer sind offen, auch wenn sie nicht offen sind, geht mein Blick durch die Türen oder sie sind im Begriff, geöffnet zu werden. Gerade die, die einen anderen reiten und in Ekstatse sind, haben einen offenen Blick ins Treppenhaus gerichtet. Ich nehme das dankbar an, weil ich das als eine wirkliche Begegnung oder ein Einverstandensein an meiner Teilhabe verstehe. So irritierend es ist, hier finden die einzigen bewussten Blickkontakte statt. Ich habe nicht mehr die Furcht, dass meine Akte, meine Pläne gefährdet sind, es ist offensichtlich etwas ganz anderes, was hier passiert, warum ich hier her gekommen bin.



Auch wenn ich die Badezimmer nicht sehen kann, auch nicht die Küchen, ich rieche deutlich starke Gerüche, manchmal Urin, viel stärker aber die indischen und asiatischen, die afrikansichen Gewürze, auch Fett, und am Gang, am Gesichtsausdruck der Bewohner wird deutlich, wer aus der Küche geht, wer hin geht, wer in den Sanitärräumen war. Es ist vielleicht wie auf dem Campingplatz. Alle scheinen sich zu kennen, aber vielmehr zu dulden, es gibt lose Bekanntschaften und Verbindungen, aber keine Kleingemeinschaft, eher die punktuellen Verbindungen, für mehr sind die Wohngemeinschaften pro Stockwerk mit zu vielen Bewohnern gefüllt. Ob diese Menschen sich in dem Fahrstuhl begegnen könnten, eng zusammen, wie sie dort einander ansehen würden, das kann ich mir nicht ausmalen. Ich bekomme das Gefühl nicht los, dass sie alle den Fahrstuhl meiden, dass ihre Entscheidung gegen den Fahrstuhl mich ergriffen hat, als ich diese Entscheidung meinte zu treffen, ganz oben im achten Stock.



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