Das Pack

Kurzgeschichte

von  Isensee

Ich höre sie, bevor ich sie sehe: dumpfe Trommeln, gröhlende Stimmen, das metallische Echo ihrer Parolen – wie rostige Nägel in der Luft. Mein Fenster ist nur angelehnt, aber es reicht. Ich sitze in meiner Küche, Tür zu, Kaffee lauwarm, Zigarette totgeascht im Porzellanbecher mit dem abgebrochenen Henkel. Ein Geschenk von meiner Mutter. "Du brauchst was Schönes für die neue Wohnung", hat sie gesagt, als sie mir den Becher auf den Linoleumboden stellte, als wäre er ein Pokal für das Durchhalten.

Draußen ist Deutschland. Es marschiert. Wieder.

Sie kommen die Hauptstraße runter wie eine Zeit, die sich verlaufen hat. Viele von ihnen tragen Flaggen. Die Deutschlandflagge, die alte Reichskriegsflagge, manchmal einfach nur schwarze Hoodies mit stilisierten Totenschädeln, die aussehen wie schlecht designte Metalband-Logos. Es gibt keine Musik, nur Lautsprecher, die heiser werden von der Gewalt, die sie ausspucken. "Wir sind das Volk", brüllt einer. Ich sehe ihn später, er hat eine Deutschlandmütze auf, die aussieht, als hätte sie jemand in die Fritteuse getaucht. Seine Augen sind klein und glänzen.

Mein Nachbar, Mehmet, hat sein Rolltor runtergezogen. Er verkauft Handyzubehör, Zigaretten und ein paar traurige Blumen in Plastikvasen. Ich sehe ihn oft, wie er auf einem Klappstuhl sitzt, "Patron"-Mütze tief im Gesicht, das Handy stumm in der Hand. Heute hat er zwei Vorhängeschlösser dran gemacht. "Nicht für die Nazis, Bruder", hat er mal gesagt, "aber für die Bullen danach. Die machen alles kaputt."

Ich lebe seit sieben Jahren in diesem Viertel. Es war nie schön. Es war ein Sammelbecken für die, die man anderswo nicht wollte. Alte mit Restalkohol im Atem, Junge mit zu vielen Träumen und zu wenig Deutsch für die Bewerbungsgespräche. Es roch nach Frittierfett, Hundescheiße und Parfüm vom Grabbeltisch. Unser Geruch.

Jetzt riecht es nach Angst. Und Wurst.

Ich gehe auf den Balkon. Zwei Stockwerke über dem Gesindel. Ein Mann in Camouflage schreit eine Frau mit Kinderwagen an. "Du sollst dich schämen!" brüllt er. Sie zieht das Kind näher an sich, sagt nichts. Ich weiß nicht, was er gesehen hat. Vielleicht den Hijab. Vielleicht nur ihre Haut. Vielleicht den Umstand, dass sie existiert.

Ich schreibe Tweets, lösche sie wieder. Die Worte wirken zu klein. Ich versuche, ein Foto zu machen, aber meine Hände zittern. Die Demo ist wie ein Autounfall, bei dem man zu viel weiß über die Beteiligten. Ich sehe in Gesichter, die aussehen wie meine alten Klassenkameraden. Der Typ mit dem Bullentätowierten Bizeps war früher mit Sandra zusammen. Sie hat mal bei Edeka gearbeitet, hat immer den Bon gefragt, "wegen Kontrolle". Heute brüllt er, dass Merkel aufgehängt gehört. Auf seinem T-Shirt steht: "Meinungsterrorist". Ich weiß nicht, ob das Ironie sein soll.

Im Radio spricht jemand von "besorgten Bürgern". Ich spucke in meinen Kaffee.

Ich erinnere mich an 2015. Da gab es Willkommensfeste. Ich war auf einem davon. Wir haben Couscous gegessen und ein Kind hat mir das arabische Alphabet beigebracht. Ich hab das kleine Heft noch. Ich finde es zwischen alten Rechnungen. Der Name des Jungen war Nour. Ich habe nie wieder von ihm gehört. Vielleicht ist er jetzt hier, irgendwo, auf der anderen Seite der Barrikade. Vielleicht ist er weg. Vielleicht ist er tot.

Die Polizei steht dazwischen, wie ein Kaugummi zwischen zwei Straßenpflastersteinen. Sie filmen mehr, als sie sprechen. Ihre Uniformen sind sauber, ihre Stiefel schwarz. Ein Polizist mit Dreitagebart und Nebelblick schaut mich kurz an. Nur ein Augenblick. Ich glaube, er weiß, was ich denke. Vielleicht denkt er es auch. Vielleicht hat er einen Bruder, der da unten marschiert. Vielleicht hat er aufgegeben.

Ich nicht.

Ich gehe runter, ziehe meine Jacke über, nehme mein altes Megafon, das ich mal bei einer Klimademo hatte. Ich bin nicht mutig. Ich bin müd. Aber Müdigkeit ist manchmal auch eine Form von Trotz. Auf der anderen Straßenseite stehen schon ein paar Leute. Zwei mit Regenbogenflagge, einer mit einem Pappschild: "Nazis raus". Ich stelle mich dazu. Keine Parolen. Nur stehen. Nur Dasein. Nur nicht schweigen.

Neben mir steht eine Frau, etwa fünfzig, in einem Anorak, der nach Kohle riecht. "Früher hätten wir die mit 'ner Trillerpfeife weggejagt", sagt sie. Ich nicke. "Heute haben die das Megafon."

Sie lachen, sie tanzen. Sie machen Selfies. Ich sehe ein Mädchen, vielleicht sechzehn, vielleicht siebzehn, mit blonder Dauerwelle und AfD-Shirt. Ich frage mich, ob sie weiß, was das ist, was sie da tut. Oder ob sie einfach nur müd ist wie ich, aber anders müd. Müd von Schulstress, Instagram, Eltern mit leerem Kühlschrank.

Ein Stein fliegt. Dann zwei. Die Polizei wird wach. Tränengas. Schubsen. Brüllen. Ich halte mein Schild höher. Mein Herz ist ein Ballon aus Glas. Neben mir blutet jemand aus der Nase. Wir kennen uns nicht. Ich reiche ihm ein Taschentuch. Er sagt "Danke" und meint: "Nicht aufgeben."

Am Abend ist alles wieder sauber. Der Platz, der Hass, der Dreck. Nur das Echo bleibt. Und die Tweets. Und die Bilder. Und das Wissen, dass sie wiederkommen.

Ich sitze wieder in meiner Küche. Mehmet klopft an die Wand. Einmal. Das heißt: "Alles okay?"

Ich klopfe zweimal. Das heißt: "Geht so."

Ich schreibe. Nicht für Likes. Nicht für den Verlag, der eh nicht antwortet. Ich schreibe, weil die Worte mein einziger Pflasterstein sind. Weil ich nicht werfen kann. Weil ich nicht schweigen kann.

"Das Pack" haben sie uns genannt. Ich trage das jetzt wie eine Marke. Wie eine Tätowierung auf der Zunge. Wenn ich spreche, ist jedes Wort eine Replik gegen den Verfall.

Das Pack. Ja. Wir sind das Pack. Und wir sind noch da.




Anmerkung von Isensee:

Kein Mitleid, kein Verständnis – nur Verachtung. 
Dieser Text zeigt nur das hässliche Gesicht, das ihr seid.

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Kommentare zu diesem Text


 Saira (26.05.25, 13:10)
Hallo Isensee,
 
die Geräusche, die Parolen und das beklemmende Gefühl der Bedrohung – all das beschreibst du so anschaulich, dass ich die Angst und Unsicherheit fast selbst spüren kann.
 
Besonders stark finde ich, wie du zeigst, wie sich das Viertel verändert: Aus einem Ort, der zwar manchmal rau, aber lebendig und solidarisch war, wird ein Platz, an dem viele Angst haben. Die kleinen Details – wie der abgebrochene Henkel am Becher, der Nachbar Mehmet mit seinen vielen Schlössern oder der Geruch nach Frittierfett und Parfum – machen deine Geschichte echt und greifbar. Ich merke, dass es hier um echte Menschen geht, um Nachbarschaft und das alltägliche Leben, das durch Hass und Gewalt bedroht wird.
 
Deine Geschichte ist nicht nur ein kurzer Moment, sondern auch ein Kommentar zur Spaltung in unserer Gesellschaft und zum wachsenden Nationalismus und Ausgrenzung. Du zeigst auf, wie hilflos sich viele fühlen, die sich dagegen wehren müssen, aber auch ihren Mut und ihre Menschlichkeit. Gerade die kleinen Gesten – wie das Gespräch mit dem Nachbarn oder das Festhalten an Erinnerungen – werden bei dir zu Zeichen von Widerstand und Zusammenhalt.
 
Ein wirklich starker Text, der mir kein neues Wissen schenkt, mir aber aufzeigt, dass es Menschen gibt, die ähnlich wie ich fühlen. Dafür danke ich dir!
 
LG
Saira

 Isensee meinte dazu am 26.05.25 um 14:51:
Moin Saira,

deine Worte über Mut, Menschlichkeit und die kleinen Gesten als Widerstand geben mir selbst Hoffnung und machen deutlich, warum es sich lohnt, solche Geschichten zu erzählen.
Ich danke dir von Herzen fürs Lesen und für deine warmen Worte.

Alles Liebe
Isensee

 Jack (26.05.25, 17:30)
"Volk" und "Pack" sollten über ihre "Willkommenskultur" besser die Migranten selbst sprechen lassen.

 Isensee antwortete darauf am 26.05.25 um 17:34:
Ja
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