Der Block
Kurzgeschichte zum Thema Kunst/ Künstler/ Kitsch
von Clown
Der Block
Die Idee für den Roman hatte bereits längere Zeit in Werners Kopf gegärt, wie er das nannte. Schließlich war der Zeitpunkt gekommen, endlich die Tasten zu bedienen und die ersten Sätze zu Papier zu bringen. In wenigen Tagen entstand das, was er als Skelett bezeichnete: der grobe Verlauf des Plots, einige skizzierte Charaktere und verschiedene mögliche Handlungsorte. Und, wie könnte es anders sein, begann er diesem Skelett Fleisch anzufügen, um etwas Lebendiges zu erschaffen. Was bedeutete, dass er anfing die einzelnen Kapitel auszuarbeiten.
Zunächst lief alles hervorragend. Täglich, gleich nach dem Frühstück, setzte er sich an die Arbeit und hörte nicht eher auf, bis ein komplettes Kapitel entstanden war. Zwar gelang ihm das nicht jeden Tag, aber insgesamt verlief alles recht gut, was ihn in einen euphorischen Zustand versetzte. Jeden Morgen stürzte er sich mit frischem Elan in die Arbeit und bis zum späten Nachmittag hielt er die erforderliche Menge beschriebener Blätter in der Hand.
Doch wo Licht ist, gibt es auch Schatten. Diese glückliche Phase an Ideen hielt nicht lange an. Werner hatte sich der Illusion hingegeben, alle Kapitel in einem Rutsch durchzukriegen. Plötzlich jedoch wendete sich das Blatt. Sein morgendliche Schaffenskraft ließ nach. Vor ihm lag ein leeres Blatt, das darauf wartete, beschrieben zu werden, während seine Gedanken versagten. Wenn tatsächlich noch etwas tröpfelte, waren es Sätze, die ihm missfielen, so dass er schließlich das Blatt aus der Schreibmaschine riss und es bereitwillig dem Papierkorb überließ.
Er wusste plötzlich nicht mehr, wie es weiter gehen sollte. War es wirklich möglich, dass
eine vermeintlich brillante Idee so urplötzlich ins Nichts führte? Die anfängliche Kreativität war ihm auf halbem Weg abhanden gekommen, und wie oft in solchen Momenten, überkamen ihn die Zweifel. „Du bist kein Dichter“, zischten sie ihm ins Ohr. „Vielleicht war das Glück beim Schreiben der ersten Kapitel nur ein Zufall. Ein echter Schriftsteller weiß, was er tut, hat eine klare Idee und bringt sie zu Papier.“
Am nächsten Tag saß Werner stundenlang vor einem weißen Blatt. Es wollte einfach nichts kommen. Der absolute Alptraum eines jeden Schriftstellers stand ihm ins Gesicht geschrieben. Je mehr er versuchte, seine Gedanken zu ordnen und seine Fantasie in Gang zu bringen, desto schlimmer wurde es. Schließlich riss er das leere Blatt aus der Maschine, zerknüllte es und warf es in den Papierkorb. Totaler Blackout! So etwas passierte doch normalerweise nur Politikern – das hatte er zumindest geglaubt.
Ein Spaziergang sollte helfen, hatte er einmal gelesen. Oder man sollte sich mit etwas ganz anderem beschäftigen – vielleicht mit Kochen, Wäschewaschen, Aufräumen oder Einkaufen. Gartenarbeit wäre auch eine Option gewesen, doch all das kam für ihn nicht in Frage. Wie konnte man sich mit all dem ablenken, wenn man ständig an sein Problem dachte? Ein Spaziergang wäre vielleicht noch in Betracht gekommen, aber dazu hatte er keine Lust.
Er hatte auch keinen Garten, in dem er sich ablenken konnte. Also blieb er vor dem leeren Blatt sitzen, starrte es an und tat nichts. Seine Gedanken drifteten ab, während er untätig Däumchen drehte.
Diese Ratgeber über kreatives Schreiben fielen ihm ein, die voll von Anleitungen sind, wie man mit einem leeren Kopf umgeht. „Managen“ - allein das Wort regte ihn auf. Für Werner war es eine Frage der Inspiration. Wenn die einmal weg war, war es vorbei.
Warum habe ich mit dieser schrecklichen Schreiberei überhaupt angefangen? - an diesem Punkt war Werner angekommen. Warum quälte man sich so, wenn es einem die meiste Zeit nur Kopfzerbrechen bereitete? Warum durchlief man Talsohlen und war gezwungen, Höhen zu erklimmen, höher als der Mount Everest? Man träumt vom großen Wurf, denkt an die Bestsellerautoren, die es geschafft haben, die dicke Schlitten fahren, Geld auf der Bank haben und grinsend in Talkshows auftreten, weil sie sich um nichts mehr sorgen müssen. Aber das sind die wenigsten. Die meisten sind wahrscheinlich arme Schlucker, so wie ich. Mit Idealismus vollgepackt, fasziniert von der Idee, Welten auf dem Papier zu entwerfen. Wofür sie so manches Ungemach, hauptsächlich finanzieller Art in Kauf nehmen, in der Hoffnung, dass sich ein Verlag erbarmt, wenn das Werk vollendet ist.
Inzwischen war es 14 Uhr und Werner hatte immer noch keine Zeile zu Papier gebracht. Nicht einen einzigen missratenen Satz. Komischerweise dachte er an Hemingway. Ob der auch so etwas wie die Schreibblockade kannte? Immerhin hat er genug Bücher geschrieben, da wird ihm auch schon mal der Gedankenstrom ausgegangen sein.
„Na, drauf geschissen“, entfuhr es Werner. Er stand auf, lief in den Flur und riss die Jacke vom Haken. Er hatte beschlossen, doch einen Spaziergang zu machen.. Draußen angekommen, lief er ein Stück auf dem Bürgersteig der Hauptstraße entlang, bog dann in eine Seitenstraße ab und nahm schließlich den Feldweg, der zum Stadtwald führte.
„Hast du heute etwas geschrieben?“, fragte Renate. Werner schüttelte den Kopf und wandte den Blick ab. Renate seufzte. Zum Abendessen, das Werner nach dem Spaziergang zubereitet hatte, war Renate rechtzeitig von der Arbeit zurück gekehrt. „Wie soll das denn weiter gehen?“, fragte sie. Werner schwieg. „Das hier ist nur ein Übergang, hast du gesagt. Wenn du nicht bald etwas verdienst, können wir die Miete nicht mehr bezahlen. Wir können doch nicht auf Dauer von meinem Geld leben, das reicht einfach nicht.“ Werner nickte und sie aßen schweigend. Nach dem Essen sagte Renate: „Wenn du vom Schreiben leben willst, musst du es auch tun. Was hast du denn den ganzen Tag gemacht?“ Werner sah sie an und antwortete: „Vor einem weißen Blatt gesessen und gehofft, dass ich nicht schneeblind werde.“
Am nächsten Morgen stand Werner um acht Uhr auf, wusch sich, frühstückte und setzte sich wieder an die Maschine. Fast ehrfürchtig spannte er ein weißes Blatt ein, schließlich lagen seine Finger auf den Tasten, bereit zu schreiben. Doch es geschah nichts, sie zuckten nicht einmal. Bis elf Uhr saß er da und wartete auf einen Einfall. Er hätte auch gleich auf Godot warten können. „Bullshit!“ Nach einer Weile war er es leid. Weiter warten wollte er nicht. Er stand auf, ging in den Flur und nahm die Jacke vom Haken. Diesmal trieb es ihn jedoch nicht zu Fuß in den Stadtwald. Nein! Diesmal setzte er sich ins Auto und fuhr zu Reiner.
Reiner lebte bei seiner Mutter und war arbeitslos, weshalb es ständig Zoff gab. Da seine Mutter aber erst spät abends von der Arbeit zurück kam, konnte man ihn tagsüber gut besuchen.
„Grüß dich Werner“, wurde er von seinem Freund begrüßt. „He, Alter“, gab Werner zurück und sie umarmten sich. Dann holte Reiner zwei Bier, machte sie mit dem Feuerzeug auf und schob eine Flasche zu Werner rüber. Sie stießen an und tranken. Danach sprachen sie über den Roman. Werner schilderte sein Dilemma und Reiner hörte aufmerksam zu. „Es ist ein doppelter Druck“, sagte Werner schließlich. „Das weiße Blatt verlangt, dass ich etwas schreibe und Renate verlangt, dass ich Geld verdiene. Hätte ich das früher gewusst“, fügte er hinzu, „wäre ich bei meiner alten Arbeit geblieben, auch wenn sie noch so beschissen war.“ Reiner lachte und klopft seinem Freund auf die Schulter. Wenn alle Dichter so dächten, ließ er seinen Freund wissen, gäbe es wahrscheinlich bald keine Bücher mehr.
Sie tranken noch ein zweites Bier und wechselten zu einem anderen Thema, was Werner recht war. Reiner zeigte ihm die Bücher, die er gerade las: „Everest“ und „Alleingang Nanga Parbat“ von Reinhold Messner. „So etwas liest du?“, fragte Werner. „Da muss dir ja ganz schön langweilig sein.“ Reiner verneinte: „Diese Bücher sind spannend, sag` ich dir. Und man kann eine Menge daraus lernen.“ Werner sah ihn an: „Was denn?“ Reiner antwortete mit einer Gegenfrage: „Was macht ein Bergsteiger, wenn das Wetter umschlägt und er nicht weiter kann?“ Werner kratzte sich am Kopf und sagte: „Hm…, umkehren?“ „Ganz falsch“, belehrte ihn Reiner, „er geht zurück ins Basislager und wartet auf besseres Wetter. Wenn er weiter geht, riskiert er sein Leben. Wenn er umkehrt, hat er aufgegeben. Wartet er aber ab, hat er immer noch eine Chance, sein Ziel zu erreichen.“
Gegen drei Uhr fuhr Werner zurück in seine Wohnung. Wenn Renate um fünf nach Hause kam, musste er ein paar Seiten Geschriebenes vorweisen. Zu Hause angekommen, zog er seine die Jacke aus und setzte sich an die Maschine. Das weiße Blatt war noch eingespannt, er konnte gleich anfangen. Doch wie zu erwarten: Es kam nichts. Und es würde auch an diesem Tag nichts mehr kommen, das wurde ihm bald klar. Reiner hatte recht, dachte er, vielleicht sollte er ins Basislager zurückkehren: ein paar Tage pausieren und auf besseres Wetter warten. Aber wie sollte er das Renate klar machen?
Als diese abends nach Hause kam, saß Reiner im Wohnzimmer hinter der Maschine. Er hatte nicht die ganze Zeit dort gesessen; er hatte sich erst kurz vor fünf noch einmal hin gesetzt, um Renate wenigstens guten Willen vorzuspielen. Er hatte auch überlegt, ihr fertige Blätter zu zeigen, die er vor Tagen schon geschrieben hatte, als die Ideen noch sprudelten. Doch das tat er dann doch nicht. „Guten Abend“, sagte Renate, sah kurz ins Wohnzimmer und ging gleich weiter in die Küche. Sie hatte einen Karton mit Lebensmitteln dabei und offensichtlich vor, etwas zu kochen. Prima, dachte Werner, dann mach ich hier Feierabend und helfe ihr. Er stand auf, ging in die Küche, sagte: „Hallo mein Schatz“ und küsste sie zur Begrüßung.
„Weißt du was“, sagte Werner später, als sie gekocht hatten und am Tisch saßen, um zu essen.
„Ne, weiß ich nicht“, antwortete Renate und sah ihn an. „Ich werde meinen alten Arbeitgeber anrufen und ihn bitten, mich wieder einzustellen.“ Renate blickte ihn entgeistert an. „Hast du immer noch nichts zu Papier gebracht, dass du so redest?“ Werner nickte und erklärte, dass er einsehe, dass er ihr nicht länger auf der Tasche liegen könne. Renate erwiderte, dass er verrückt sei, so einen Job wieder anzunehmen. Sie müsste sich dann wieder das ständige Gejammer anhören – dass die Tätigkeit unbefriedigend sei und er lieber etwas Sinnvolles machen würde. Außerdem sei das mit dem Geld nicht so schlimm, wie sie gesagt habe. Sie wolle nur nicht, dass es bis in alle Ewigkeit so weitergehe.
Am Wochenende fuhren sie zusammen zur Jagdhütte, die Renates Eltern gehörte.
Sie war klein und spartanisch eingerichtet, hatte aber fließend Wasser, Strom und eine
Koje zum schlafen. Es gab auch einen See, an dem man angeln konnte. Dort saß Werner, hielt die Angel ins Wasser und hatte eine offene Flasche Bier neben sich stehen. Renate war in der Hütte noch am Einräumen und Aufräumen. Sie könne ihn dabei nicht gebrauchen, hatte sie gesagt, aus welchen Gründen auch immer. Vermutlich, weil Männer bei solchen Tätigkeiten nur im Weg stehen.
Später kam sie heraus, setzte sich neben ihn und rauchte eine Zigarette.
„Weißt du“, sagte sie, „du musst dich einfach mit dem Gegebenheiten abfinden. Willst du ein Schriftsteller sein, musst du dich wie einer benehmen. Und wenn du eine Schreibblockade hast, gehört das eben dazu.“ Werner sah sie mit zusammen gekniffenen Augen an: „Und wer zahlt die Miete und den Unterhalt, wenn ich nichts schreibe?“ Renate erwiderte: „Du hast doch am Anfang geschrieben, ein paar Tage lang hat es prima funktioniert, oder etwa nicht?“ „Doch, das hat es“, entgegnete Werner.
Sie schwiegen eine Weile, bis Renate sagte: „Das kommt wieder und dann hast du neue Einfälle und kannst ein Stück weiter schreiben.“ Sie klopfte ihm ermutigend auf die Schulter. „Und in der Zwischenzeit könntest du mal bei ein paar Verlagen anfragen, ob sie Interesse an deinem Werk haben. Ein Exposé schreiben, eine Vita und so, du weißt schon.“
Später ging Renate zurück in die Hütte, um das Abendessen zu kochen. Es gäbe etwas ganz besonderes, hatte sie zuvor gesagt. Werner hatte freudig genickt. Als Renate später nach ihm rief, gab er keine Antwort. Sie rannte nach draußen, dorthin wo er zuvor noch angelte, aber er war verschwunden. Die Angel lag da, einen Fisch hatte er nicht gefangen. „Werner!“, rief sie, „wo bist du?“ Doch er war nirgends zu sehen und gab auch keine Antwort. Sie lief um den See herum, fand ihn aber nicht. Dann lief sie zum Auto, aber auch da war er nicht. Ob ihm etwas passiert ist? Der kalte Schweiß brach ihr aus, bei dem Gedanken. „Werner!“, rief sie erneut, lauter, aber es kam keine Antwort.
Zwei Stunden später, als bei Renate bereits hemmungslos die Tränen liefen, kam Werner wieder. Er strahlte übers ganze Gesicht, als er in die Hütte eintrat und sie in die Arme schloss. „Musst nicht weinen“, tröstete er sie. „Ich war doch nur ein kleines Stück weg, drüben am Waldrand. Dort gibt es eine Bank: Kopfhörer mit Musik auf den Ohren, Notizbuch und Stift gezückt.“ Plötzlich hellte sich Renates Stimmung auf und sie fragte: „Du hast dich zurück gezogen, weil du wusstest, wie es weiter geht?“ Werner nickte und antwortete: „Ich hatte auf einmal – wie aus heiterem Himmel – diesen Einfall. Und dort drüben“, er zeigte in Richtung Waldrand, „habe ich dann alles aufgeschrieben. Und ich sage dir: Das reicht, um zuhause zwei neue Kapitel zu schreiben.“
Als sie sich voneinander gelöst hatten, trocknete Renate ihre Tränen mit einem Taschentuch.
Dann sagte sie: „Das Wetter hat aufgeklart, du bist wieder unterwegs in Richtung Gipfel.“ Werner verstand erst nicht. „Na, so wie die Bergsteiger es machen“, fügte Renate hinzu, „ich hab´ das mal in einem Film gesehen.“ Komisch, dachte Werner, davon hat Reiner doch auch gesprochen: Was man aus diesen Messner-Büchern so alles lernen kann. Er holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank, machte es auf und setzte sich. Hm…, dachte er nach einer Weile, so verkehrt ist der Vergleich gar nicht.