Ende der Menschheit

Text

von  autoralexanderschwarz

Kunst des Starrens (32) - Ende der Menschheit


„Ich glaube ja nicht, dass der Menschheit noch so viel Zeit bleibt“, sage ich zu Olaf, dem Sohn des Apothekers, nachdem wir eine Weile gesessen, gestarrt und dabei gedacht haben.

„Schließlich tut sie ja fortwährend alles, um in kollektiven Bemühungen sich selbst und all ihre Lebensgrundlagen zu zerstören und das ist ja nichts Neues, das weiß man ja spätestens seit Adorno auch in breiteren Kreisen. Das hat ja niemanden davon abgehalten, die Beatles gut zu finden“,

sage ich und nippe an meiner Rhabarberschorle, die mir an diesem Tag besonders gut schmeckt. Irgendwie ist sie fruchtiger als sonst und die Kohlensäure prickelt angenehm erfrischend auf der Zunge.

„Ich mag die Beatles“, sagt Olaf, der Sohn des Apothekers, nach kurzem Nachdenken und macht eine kleine Pause, um an seiner Rhabarberschorle zu nippen, „Adornos Musik hingegen hat mir nie gefallen.“

Hierauf starren wir, denken und starren, und da es eine ganze Weile her ist, dass wir so, gemeinsam, gedacht und gestarrt haben, überkommt mich ein ganz unerwartet nostalgisches Gefühl. Von all den vergangenen Momenten meines Lebens, denke ich, sind mir doch die denkenden und starrenden die liebsten gewesen.

„Außerdem“, ergänzt Olaf, der Sohn des Apothekers, „ist es doch ganz offensichtlich, warum die Mehrheit der Menschen sich nicht mit dem baldigen Untergang der Menschheit auseinandersetzt. Die allermeisten haben ja schon viel zu viel damit zu tun, an sich selbst zu denken, zu arbeiten, zu konsumieren und ihren Kindern dann am Abend eine Gute-Nacht-Geschichte vorzulesen, in der die Guten belohnt und die Bösen bestraft werden. Die kollektive Anstrengung der Weltzerstörung, die du eingangs beklagt hast, ist dem Einzelnen ja als verborgene Kehrseite seines individuellen und heutzutage ja vollkommen normalen Egoismus gar nicht bewusst. Vielleicht hat er, da ja nun die Einschläge näherkommen und der Krieg und die Umweltkatastrophen es bis nach Europa geschafft haben, eine vage Vorstellung der Bedrohung, also dass auch sein Häuschen nun weggeschwemmt oder bald gar bombardiert werden könnte, aber mitnichten begreift er sich in seiner Rädchenfunktion und damit als Teil jener Kraft (oder zumindest ihrer Weiterleitung), die, jetzt hätte ich doch beinahe den Faust zitiert, zumindest stets das Böse schafft oder, einfacher formuliert: einfach alles kaputtmacht.“

Hierauf schweigt er und nippt an seiner Rhabarberschorle, während auch ich schweige und an meiner Rhabarberschorle nippe, denke und starre und dabei spüre, dass ich mich einem großen Gedanken nähere. Alles, denke ich, lässt sich schließlich vielleicht doch auf einen einzigen gemeinsamen Nenner bringen, der nur in der Form jener wirklich außerordentlich schönen Metapher sichtbar wird, die sich mir - denkend und starrend - da im Nebel zwischen Bewusstem und Unbewusstem offenbart, die so plausibel ist, dass ich noch einen Moment über sie staunen möchte, bevor ich sie tatsächlich ausspreche und damit in der schnöden Realität verankere.

„Wie schmeckt dir eigentlich die Schorle?“, fragt Olaf, der Sohn des Apothekers, auf einmal und er fragt es sehr ernst, so dass man merkt, dass ihm die Antwort etwas bedeutet.

„Gut“, antworte ich, „fruchtiger als sonst. Sie schmeckt diesmal wirklich außergewöhnlich gut.“

„Ich habe das Rezept verändert“, erklärt Olaf, der Sohn des Apothekers,

„während ich sonst zwei Teile Wasser und einen Teil Rhabarbersaft genommen habe, mische ich Saft und Wasser nun zu gleichen Teilen. Ich finde auch, dass sie nun fruchtiger schmeckt“, sagt Olaf, der Sohn des Apothekers, und ergänzt dann: „Es freut mich, dass du das auch so siehst, sonst hätte ich von nun an beide Schorlen unterschiedlich mischen müssen.“

„Das ist ja gar nicht nötig“, antworte ich und bin für einen kurzen Moment sehr dankbar. Zusammen mit dem nostalgischen Gefühl von davor bringt mich dies in eine seltsam euphorische Stimmung. Selbst der Untergang der Menschheit ist mir auf einmal gänzlich egal und da ja ohnehin alles vollständig hoffnungslos ist, der Einzelne keinen Unterschied macht und die Massen zu beschäftigt zum Reagieren sind, ist es vielleicht auch gar nicht ratsam, eben jene Momente, in denen man frei heraus denken und starren kann, für das Vergegenwärtigen des Unabänderlichen zu verschwenden, denke ich, während ich an meiner Rhabarberschorle nippe, und dann, dass ich froh bin, zumindest noch eine Weile denken und starren zu können. Vielleicht bleiben uns ja noch ein paar Jahre. „Wenn mehr Menschen denken und starren würden, dann wäre die Welt eine andere“, sage ich zu Olaf, dem Sohn des Apothekers, und dann lachen wir gemeinsam über diesen Satz, der – wie so vieles – nur eine dumme Tautologie ist.



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