Mitgewalt

Betrachtung zum Thema Aktuelles

von  dubdidu

Die Erzählung Gewalt erzeugt Gegengewalt ist auf die gegenwärtigen Zustände nicht anwendbar. Viel eher muss von Mitgewalt gesprochen werden, Bild: Lawine. Politiker inszenieren Gewalt auf der öffentlichen Bühne, sprechen eine Sprache der Verachtung: geballte Fäuste, verzogene Münder, Kettensägen usw. und ein beachtlicher Teil der Bevölkerung geht ab angesichts Gewaltgesten und Gewaltsprache, lässt sich mit diesem Gas füllen wie ein Luftballon und wähnt sich hoch über den Köpfen der Anderen. Wer immer nicht mitmacht, wird zum Heuchler und Systemling, Intellektuellen erklärt. Springer und Blog-Konsorten zündeln fröhlich ganz vorne mit, der Rest aus der zweiten Reihe, verhaltener. Opportunismus züngelt um sich. Bei Leuten, die anschlussfähig für Gewaltinszenierungen und ausgelebte Verachtung sind, zumindest hollywoodgeschädigt, fällt das auf fruchtbaren Boden, manchmal bis zur tatsächlichen Gewalttat. Wer nicht anschlussfähig ist, wird als aus der Zeit gefallen ausgebuht. Aber die Zeiten haben sich nicht geändert, sondern der Zeitbezug. Imre Kertesz in Fiasko, 1986:


Andererseits jedoch erleidet jede Vermittlung gerade daran Schiffbruch, dass sie an repräsentativen Gestalten festhalten. Denn die tragischen Gestalten leben in der Welt des Schicksals, und die Perspektive der Tragödie ist die Ewigkeit; die Welt der totalitären Gewaltsysteme dagegen ist die begrenzte und unüberwindliche Welt von Situationen, ihre Perspektive ist lediglich jene Zeit, in der sie gerade andauern. Wie könnte auch diese Erfahrung vermittelbar sein, die gerade nicht in Erfahrung umsetzbar ist und auch nicht sein will, weil das Wesen ihrer Situation - dieser gleichzeitig zu abstrakten und zu konkreten Situation - auf der unwesentlichen und jederzeit austauschbaren Persönlichkeit beruht, für die es, an der Situation gemessen, weder Beginn noch Fortsetzung und erst recht keine Analogie gibt - die also, an der Vernunft gemessen, unwirklich ist? Vielleicht - überlegte ich - müsste man eine Vorrichtung konstruieren, einen drehbaren Mechanismus, eine Falle; in ihren Gängen, auf ihren labyrinthisch anmutenden, doch stets in eine eine Richtung jagenden Bahnen jagen, von einer einzigen mechanischen Kraft angetrieben, in Gefangenschaft geratene Figuren wie elektronische Mäuse unaufhörlich umher. Alles rumpelt, schwankt, trampelt aufeinander herum, bis der Mechanismus auf einmal zerspringt: da, nach kurzer und erstaunter Verwunderung laufen alle davon. Es bleibt jedoch das Geheimnis, die Erklärung für das Funktionsprinzip der Maschine, die viel zu einfach und viel zu demütigend ist, um vernommen zu werden: dass nämlich die Maschine die Kraft, mit der die Figuren herumgejagt werden, aus der Energie ihres eigenen Herumrennens schöpfte.


Deshalb ergibt es auch so wenig Sinn, dieses Phänomen anhand von Personalisierungen erklären zu wollen, die Politiker sind wie alle anderen Beteiligten vollkommen austauschbare Marionetten, die sich selbst spielen. Es geht um die Dynamik, das Anfachen von Gefühlen und das Sich-davon-Ernähren.



Anmerkung von dubdidu:

In der Nacht von Samstag auf Sonntag schoss in Houston, Texas ein Erwachsener einem elfjährigen Jungen in den Rücken. Grund: Klingelstreich.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Zur Zeit online: