Stell dir vor: deine Ehe ist schon vor Jahren gescheitert. Inzwischen bist du verwitwet. Auf dem Papier seid ihr bis zum Schluss verheiratet geblieben. Du hast Schulden geerbt; Schulden, die das Familienunternehmen bei seinen Angestellten und Arbeitern gemacht hat und besonders bei denen, die sich jahrzehntelang abgerackert haben, um sich einer Festanstellung würdig zu erweisen, um die sie sich erst viel zu spät, nach einem Wechsel der Geschäftsführung bewerben konnten. Du hast sogar die Schulden geerbt, die dein Mann oder deine Frau zu Lebzeiten bei dir gemacht hat. Und: aus seiner oder ihrer Familie, diesem Familienunternehmen, wirst du nie wieder rauskommen. Du steckst fest.
Einschub: Für diese Vorstellung ist dein Geschlecht unerheblich. Entscheidend ist, dass du im Leben nie etwas zu sagen hattest, in deiner Herkunftsfamilie nicht und nicht in der, in die du eingeheiratet hast. Entscheidend ist, dass du in deiner Herkunftsfamilie nicht lernen konntest, worauf es in der Familie, die ab dem Zeitpunkt der Vermählung den Rahmen deines Handlungsspielraums bestimmen würde, ankommt. Du warst vollkommen unvorbereitet. Naja, gut. Es gab schon Menschen, die dir von einer Ehe unter diesen Bedingungen abgeraten haben. Es gab sogar noch einen anderen Heiratsantrag.
Aber: der andere Antrag war einfach nicht so romantisch, er hat kein so schönes Leben versprochen. Und: du hast an diese Versprechungen geglaubt. Du warst hoffnungsvoll, du warst willig. Und bereit, alles zu geben, was dir abverlangt wurde; deinen Teil des Ehevertrags zu erfüllen, auf dass die Versprechungen eingelöst würden. Die Versprechungen waren dein Antrieb.
Anfangs hat man dir in der neuen Familie viel Aufmerksamkeit geschenkt. Man hat dich herumgezeigt. Man war stolz; nicht auf dich, sondern darauf, dass man dich aus deiner dysfunktionalen Familie sozusagen befreit hatte. Du hast das Tuscheln und Kichern hinter deinem Rücken bemerkt, aber du hast gedacht, das würde vorübergehen. Du hast dir große Mühe gegeben, die Gewohnheiten aus deiner Herkunftsfamilie abzulegen und dir die neuen anzugewöhnen. Die waren dir oft fremd, aber du hast getan, was du konntest. Dein Leben wurde nicht besser. Du hast deinen Mann oder deine Frau darauf angesprochen. Du hast ihn oder sie an die Versprechungen erinnert. Man hat dir gesagt, dass es an dir läge, dass du selber schuld bist. Man hat dich beschämt und du hast dich geschämt. Du hast verzweifelt auf deine Mühen hingewiesen, auf alles, was du ins Familienunternehmen gesteckt hattest. Man hat mit den Schultern gezuckt. Man hat gesagt: „das ausgebliebene Ergebnis, dass ich versprochen hatte, geht auf deine Kappe; hättest du dich ausreichend angestrengt, wäre auch was draus geworden. So läuft das in unserer Familie. Wir haben dir Hilfe geleistet und wir haben uns die Hilfe was kosten lassen. Du hast nichts draus gemacht. Du hängst uns wie ein Klotz am Bein“. Du hast auf die Umstände hingewiesen. Wieder nur Schulterzucken.
In der Öffentlichkeit hat dein Mann oder deine Frau sich immer noch dafür feiern lassen, dich befreit zu haben. Aber du seist eben ein Sorgenkind. Da hast du angefangen, dich in dein altes Leben zurückzusehnen, heimlich erst, dann immer lauter. Das ist nicht gut angekommen. Die neue Familie hat sich von dir abgewandt. Das hat dich traurig und wütend gemacht. Schließlich musste dein Mann oder deine Frau die Geschäftsführung abgeben. Kurz darauf ist die Familie dahintergekommen, dass er oder sie gemeinsam mit ein paar anderen korrupte Geschäfte gemacht und auch sonst schlecht gehaushaltet hat. Man sagt, dein Mann oder deine Frau, sei auch für deine Misserfolge mitverantwortlich. Aber du stellst dich hinter ihn. Er oder sie ist doch anfangs so nett gewesen und hat dir ein so schönes Leben versprochen! Mit den schwierigen Umständen hatte doch er oder sie nichts zu tun! Der Ruf deines Mannes oder deiner Frau war nach dieser Sache beschädigt. Aber nicht annähernd so schlecht wie dein eigener Ruf, den du nie so recht verstanden hast.
Dein Mann oder deine Frau hat sich von dir getrennt und ein Buch darüber geschrieben, wie er oder sie dich aus deiner alten Familie befreit und in die neue eingeführt hat. Bis zu seinem oder ihrem Tod hat er oder sie daran festgehalten, alles richtig gemacht zu haben. Und du auch. Also an ihm oder ihr.
Du bist mit einer kleinen Rente zurückgeblieben, die kaum zur Deckung der Lebenshaltungskosten reicht; mit einem schlechten Ruf und Beschämung. Du hast gedacht, die neue Geschäftsführung des Familienunternehmens würde nun vielleicht die Versprechungen einlösen. Aber Pustekuchen. Die hat dasselbe gesagt wie die alte. Dass du gescheitert bist. Und ein Klotz am Bein. Auf die bist du wütend, nicht auf auf deinen Mann oder deine Frau; und noch viel wütender bist du auf alle, die von der neuen Geschäftsführung festangestellt wurden und auf die neuen Arbeiter im Familienunternehmen; auf jeden Menschen, der eine Chance bekommt oder eine Hilfeleistung, auf jeden Menschen, dessen Mühen gesehen werden und auf jeden Menschen, der sich deiner Ansicht nach zu wenig anstrengt. Du glaubst, wenn diese Menschen alle verschwänden, würden die alten Versprechungen, endlich doch noch eingelöst werden.
Du sitzt da, gealtert und frustriert, ein vertrockneter Dornbusch in einem Brachland; und du wünscht dich in die Anfangszeit deiner Ehe zurück. Jene goldene Zeit, in der die Erfüllung der Versprechungen zum Greifen nah schien und das bessere Leben jeden Tag beginnen würde. Ach! Hätte diese Zeit nie aufgehört! Wenn nur alles so geblieben wäre wie damals: bunte Blumen und Glitzer und stolz geschwollene Brüste. Voller Sehnsucht denkst du an euer Kennenlernen zurück, an den Klang der verheißungsvollen Worte und die fabelhaften Zukunftsbilder, an das Kribbeln der Hoffnung und an all die Kraft und Bereitschaft, die du damals noch hattest. An deinen Glauben daran, dass die Versprechungen erfüllt würden.
Du bist ein Ossi, der sich Helmut Kohl zurückwünscht.