Von Perlen und Buttons

Gedanke zum Thema Illusion

von  dubdidu

Bildung sind keine Perlen, die man fleißig einsammelt und sich dann stolz um den Hals hängt, um den eigenen Wert zu steigern und seine Position zu festigen. Klar, es gibt zahlreiche Menschen, die ihre Abschlüsse aufzählen, sich Titel wie Buttons ans Revers heften, Bücher aufzählen, die sie gelesen haben, Götzen anbeten, die einen überlieferten Ruf genießen, als würde der auf sie abfärben. Solchen Menschen geht es nicht um die Lust am Erkenntnisprozess, sondern um ihr Ego und ihre soziale Position. Leider leben wir in einer Gesellschaft, die ein solches Verhalten fördert und teilweise sogar fordert. Der Fachbegriff dafür lautet Distinktion, das Phänomen kann man aber auch beobachten, ohne den Fachbegriff zu kennen, es ist ja ein ziemlich durchschaubares Verhalten.



Bildung ist dem Wesen nach etwas Unabgeschlossenes, etwas, das selbsttätig wirkt. Müsste man eine materielle Metapher dafür finden, wäre es am ehesten ein Werkzeug, das sich bei jeder Anwendung ein wenig verändert, ohne sich im Wesen zu wandeln.


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Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (16.07.25, 14:59)
Das Phänomen der Titelsucht ist nicht auf den Bereich der Bildung beschränkt. Und es ist auch nicht neu.

Hier ein Beispiel aus der Antike:

I.
Tiberius (14 u.Z., bei seiner Thronbesteigung)

IMPERATOR  TIBERIUS  CAESAR  AUGUSTUS


II.
Traian (98 u.Z., bei seiner Thronbesteigung)

IMPERATOR  CAESAR  NERVA  TRAIANUS  AUGUSTUS  PONTIFEX MAXIMUS  PROCONSUL  PATER PATRIAE


III.
Constantin d. Gr. (312 u.Z.)

IMPERATOR  CONSTANTINUS  VICTOR  AUGUSTUS  PONTIFEX MAXIMUS  PATER PATRIAE  PROCONSUL  MAXIMUS AUGUSTUS  TRIUMPHATOR OMNIUM GENTIUM  RESTITUTOR LIBERTATIS  RESTITUTOR TOTIUS ORBIS

Und aus dem akademischen Milieu kennt man ihn schon seit längerem, den Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. mult.

Das soll keine Verteidigung sein, aber der Wunsch, sich über andere zu erheben, ist wohl (seit der Neolithischen Revolution?) im Menschen verankert.

Kommentar geändert am 16.07.2025 um 15:29 Uhr

 dubdidu meinte dazu am 17.07.25 um 00:56:
Natürlich ist das Phänomen nicht neu und kommt in allen Bereichen vor, Graeculus, in beiden Punkten erhebe ich auf das Gegenteil keinen Anspruch.

Dass es ein Menschen (biologisch?)verankerter Wunsch sei, halte ich für einen Sein-Sollen-Fehlschluss. Aus meiner Sicht spricht alles dafür, dass es sich um eine kulturell gewachsene soziale Praxis handelt und dass es sich um eine Strategie handelt, hinter der andere Wünsche bzw. Nöte stehen: objektive Schwäche und/oder subjektives Schwächeempfinden, welche kurzfristig mit der Erhebung über andere gelindert werden können, sofern es innerhalb der sozialen Zusammenhänge belohnt wird. Jeder Einzelne hat zu jedem Zeitpunkt die Wahl, ob er diese Strategie anwenden möchte oder nicht.

 Graeculus antwortete darauf am 17.07.25 um 09:08:
Von einer biologischen Festlegung möchte ich nicht sprechen. Da das Phänomen erst seit der Neolithischen Revolution belegt ist, ist es für 99 % der Menschheitsgeschichte eben nicht belegt. Es hängt wohl mit der Einführung sozialer Differenzierung zusammen.

 Graeculus schrieb daraufhin am 17.07.25 um 09:29:
Ich wollte wohl sagen: Wenn man von einer sozial differenzierten Gesellschaft ausgeht, dann sind allerlei Distinktionsmerkmale konsequent, geradezu zwangsläufig.

 dubdidu äußerte darauf am 17.07.25 um 12:19:
Ach so, dann hatte ich dich missverstanden und wir liegen näher beieinander als ich dachte. Dass es Distinktionsmerkmale gibt, ist eine Sache, wie man sich zu ihnen stellt, also zu welchem Grad man die eigene Identität vom sozialen Status abhängig macht und welche Strategien man nutzt, ist ganz unterschiedlich. 

In Aufsteigerbiografien spielt das Auswendiglernen von sozialen, an Status gebundenen Codes offensichtlich (und verständlicherweise) eine enorm große Rolle.

Antwort geändert am 17.07.2025 um 15:27 Uhr

 Augustus (16.07.25, 16:42)
und doch könnte jeder irgendwo an irgendeiner Stelle an seinem Ego verletzt werden. Der Prof., dem der Nobelpreis versagt wurde, die höchste Auszeichnung einer wissenschaftlichen Karriere in bestimmten Fachrichtungen. Der Dr., der es nicht zum Prof. geschafft hat, oder der Millionär, der nicht Milliardär ist.  Der Autor, der keinen Bestseller geschrieben hat. 

Sich mit dem geträumten und vllt gewünschten Unerreichbaren zu versöhnen, iist Reife.

 Augustus ergänzte dazu am 16.07.25 um 16:48:
Nachtrag: Ich kenne eine fiktive Person, die ihr Leben lang bloß immer fort Zahlen gezählt hat. Sie brüstet sich den Weltrekord im Zählen zu halten und bezieht dadurch ein Selbstvertrauen ein Übermensch zu sein. 

 dubdidu meinte dazu am 16.07.25 um 22:26:
Ja, klar, Augustus, und ich denke, für eine solche Versöhnung ist es nie zu spät.

 S4SCH4 (16.07.25, 23:27)
Ein wenig mehr hätte es schon sein können. Die romantiserende Werkzeugmetapher ist ok aber m.E. irgendwie langweilig (weil zu versöhnlich)

Bildung basiert auf Vereinbarungen in der Gesellschaft; ja, und Ausnahmen bestätigen die Regel. Verkannte Genies, Wahnsinnige, aber auch: Bildungslangweiler und Möchtegerns. Die, die nie eine Chance bekommen habe gehören auch dazu. 
Will sagen: das Thema / der Gedanke hat mir derzeit einfach zuviel Sprengstoff, als das man es einfach mit dem Werkzeugdingensmetapher abzucancelte und scheinbar zur Ruhe bettet.

 dubdidu meinte dazu am 17.07.25 um 01:03:
Ah, echt, so romantisch kommt sie mir gar nicht vor. Aber ich habe auch nicht lange darüber nachgedacht. 

Ich halte Bildung wie gesagt für einen Prozess, nicht für eine Vereinbarung, allerdings könnte man formale Bildungstitel als Vereinbarungen mit der Gesellschaft bezeichnen. Worauf ich ganz unmethaphorisch hinauswollte: Bildung ist nicht Auswendiglernen oder sammeln, es geht auch nicht darum, Einzelheiten aufzuzählen, vielmehr wirkt sich das Verständnis von einem Konzept darauf aus, wie man sich dem nächsten Inhalt nähert usw.

 Quoth (17.07.25, 10:34)
Ich kenne Ärzte, die stolz darauf sind, keinen Doktortitel zu haben, und nicht als "Herr Doktor" angesprochen werden möchten.

 dubdidu meinte dazu am 17.07.25 um 12:11:
Ja, Quoth, ich auch. Nur weil die Möglichkeit von Titelprahlerei besteht, heißt das ja nicht, dass alle sie ergreifen müssen.

Neulich meinte jmd., dass einige Ärzte, z.B. Zahnärzte, nach ihrem langen Studium letztendlich eher als Handwerker arbeiten. Ich kann dieser Sichtweise durchaus was abgewinnen, wer sehr stark im Statusdenken verhaftet ist, könnte so eine Äußerung auch als Sakrileg empfinden.

Antwort geändert am 17.07.2025 um 15:26 Uhr

 Quoth meinte dazu am 17.07.25 um 18:47:
Der Doktor-Titel hat an Ansehen sehr verloren, seit bekannt ist, wie oberflächlich, flott und kopierfreudig viele Doktorarbeiten zusammengeschmiert wurden.

 dubdidu meinte dazu am 18.07.25 um 09:46:
Ja, soweit ich weiß, ist der Anspruch an Doktorarbeiten praktizierender Ärzte nie besonders hoch. Ein Mitschüler, (zufälligerweise) Zahnarzt, schrieb z.B. seine Doktorarbeit über den Nutzen von in Praxen ausliegendem Informationsmaterial zur Früherkennung orthopädischer Fehlbildungen bei Kindern. Reine Statistik.
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