Das letzte Tier: Prolog und 1. Kapitel
Text
von J.B.W
„Das letzte Tier“
von J. B. Weber, 2025
Prolog
Flottenverband Nova,
KAA-723, Sektor 49, Hangar 17.
KAA-723: Koloniale Arche des Aufbruchs Nr. 723 – eines von insgesamt 2.496 Generationenschiffen, Trägerschiff für 162.400 Seelen. In einer gewaltigen Kolonne dieser gigantischen Raumschiffe hatte die Menschheit vor 2.286 Jahren, am Tag des Aufbruchs und dem Beginn der neuen Zeitrechnung, die Erde verlassen – mit Kurs auf ihren zukünftigen Heimatplaneten: Centauri 2067-Elysium. Man sagt, die Erde und ihr Sonnensystem hätten nicht länger über genügend Ressourcen verfügt – weder für den Erhalt ihrer Technologie noch für das Überleben der Menschheit. Der Tag der Ankunft und der glorreichen Neubesiedlung wurde seither immer wieder von den Wissenschaftlern neu berechnet; aktuell hoffte man auf das Jahr 4882 n. A.
Die Geschichte beginnt auf einem dieser Schiffe – in einem unbedeutenden Sektor, im Bereich von Hangar 17 – im ebenso unscheinbaren Leben eines Ingenieurs der siebten Klasse namens Ezren Tal. Gerade befand er sich auf dem Weg zur sechsten von vielen langen Pausen seines heutigen Arbeitstages. Wie so oft in dieser freien Zeit begab er sich in sein kleines, spärlich eingerichtetes Reich. Direkt im Gang zwischen Hangar 17 und Lagerraum 17 lag – neben anderen Crewquartieren – auch seines.
Dort hatte er über die letzten Jahre seine größte Leidenschaft kultiviert: das umfängliche Führen eines privaten Logbuchs. Als Ingenieur der Klasse VII war er nur noch dazu befugt, die ältesten technischen Komponenten und Geräte des Schiffs zu warten.
Entsprechend überschaubar waren seine tatsächlichen Arbeitseinsätze geblieben, entsprechend groß auch seine Freizeit und damit verbundene Langeweile.
1. Kapitel
Privates Logbuch: Ezren Tal
Ingenieur Klasse VII, Einsatzbereich Sektoren 45–50
Quartier 49-17-F
2286 n. A. – Eintrag 192.49.17.1197:
Wir haben noch nicht einmal fünf, und ich komme gerade vom letzten offenen Wartungsticket des Zyklus. Zumindest sieht es im Moment danach aus – es sei denn, Silka findet später, kurz vor Schichtende, doch wieder etwas in ihrem Auftragsterminal. Da beneide ich die Herren Kollegen der Ingenieursklasse I wirklich mal wieder kein bisschen – mit ihren Auszeichnungen für Überstunden, der zehnten Doppelschicht in Serie und den zwanzig verschiedenen Vorgesetzten, denen sie taktisch in den Arsch kriechen müssen. Nein, da ist unsere Silka hier schon eine Liebe.
Ich habe eben Bravik im Versorgungskorridor getroffen – er hat jetzt auch wieder etwas mehr Luft. Na ja, wenigstens kann er sich nach den Fortbildungsmodulen sicher sein, dass er erst einmal in seinem Wachposten Delta-17 bleiben darf. Er meinte, er mache das nur, um es gemütlicher zu haben, und nicht etwa, weil er plötzlich karrieregeil geworden wäre – ich solle mir da keine Sorgen machen. Um ehrlich zu sein, habe ich mich sehr gefreut. Aber für besonderen Ehrgeiz ist Bravik ja nun wirklich nicht bekannt.
Jedenfalls hat er mir erzählt, dass seit heute Vormittag ein Shuttle im Haupthangar 17 steht. Nichts Ungewöhnliches – eines vom Vereinigten Kolonialen Handels- und Transportkonsortium. Unter den Passagieren war wohl ein älterer Mann - Araber oder Grieche vielleicht - den Bravik als Sicherheitsbeamter zu seiner temporären Unterkunft eskortiert hat. Lagerraum 17-B, Parzellen 35 bis 38 – gemeinsam mit den anderen Zivilisten des Shuttles: einer vierköpfigen Familie und einem Mechaniker. Der alte Mann ist offiziell als Händler registriert, aber das war nicht der Grund, weshalb Bravik mir von ihm erzählt hat.
Anscheinend ist – oder war – der Mann auch ein Geschichtenerzähler. Bravik hat mitgehört, wie er den beiden Kindern der Familie eine erzählt hat: von einem sprechenden Schnabeltier, das über die alte Erde wandert und allerlei Abenteuer erlebt. Klang erstmal schräg – aber Bravik war richtig angetan, als er davon berichtete. Er sprach von den leuchtenden Augen der Kinder, von der Art, wie der Alte mit lebendiger Stimme und beeindruckender Sprachkunst erzählte. Fast schon hypnotisch, meinte er. Nachdem ich meine Ration gegessen habe, werde ich mal sehen, ob ich diesen mysteriösen alten Araber aufstöbern kann – und vielleicht ebenfalls in den Genuss seiner Geschichten komme. Viel Abwechslung und Unterhaltung gibt es hier ja ansonsten wirklich nicht.
Ende: Eintrag 192.49.17.1197
Ezren verließ sein kleines Wohnquartier in Richtung des Lagerraums B. Die meisten der Parzellen dort wurden tatsächlich nur zur kurz- oder mittelfristigen Aufbewahrung von Waren, Ersatzteilen oder Werkzeugen genutzt, einige standen leer. Zehn Parzellen jedoch waren mit Wohncontainern bestückt worden, die als Übergangsunterkünfte sowohl für Kurzzeitgäste und Boten dienten als auch für reisende Händler und Umsiedler von anderen Schiffen der Kolonne, deren Sicherheitsüberprüfung noch nicht abgeschlossen war – oder Ähnliches.
Vor dem Eingang zum Wohncontainer in Parzelle 36 lag ein prächtiger, wenn auch etwas in Mitleidenschaft gezogener, orientalischer Teppich. Darauf saß der alte Mann im Schneidersitz, umringt von einigen Kindern und dem ein oder anderen Erwachsenen, trank Tee und erzählte. Er trug grobgewebte Kleidung in gedeckten Erd- und Grautönen, darüber einen langen, dunkelbraunen Mantel mit herabhängender Kapuze, der wie eine Schleppe über den Boden strich. In seinem schulterlangen, graphitgrauen Haar waren einzelne Perlen, eine kleine Silbermünze und schwarze Stoffbänder eingeflochten. Während er sprach, erzählten auch seine Hände, seine Gesichtszüge und seine lebhaften Augen mit dem kleinen Publikum.
Ezren stellte sich in die Nähe der Luftfilteranlage, nur wenige Meter entfernt, öffnete seinen Koffer und tat so, als hätte er irgendetwas zu arbeiten. Aufmerksam lauschte er dem Geschichtenerzähler …
Als das Schnabeltier gerade auf dem Weg zu einem kleinen Flusslauf war – um sich dort auf seinem Lieblingsstein in die Sonne zu legen, sich einen Imbiss zu genehmigen und darüber nachzudenken, was mit dem Rest des Tages und seines Lebens anzufangen sei, wer es war oder sein wollte und dergleichen –, traf es auf eine Biene. Sie saß auf einer Blume am Rand des Weges und ging ihrem Tagewerk nach, als sie das Schnabeltier bemerkte, es irritiert ansah und dann – wie es unter Bienen üblich war – zu sprechen begann:
„Hallo du, ich bin Meliota. Ich bin eine Honigbiene, wie unschwer zu erkennen ist. Entschuldige, dass ich so unverblümt frage.“ Sie kicherte, als hätte sie etwas sehr Geistreiches gesagt.
„Ich habe so ein Tier wie dich noch nie gesehen. Wer und was bist du?“
Das Schnabeltier lächelte und antwortete:
„Einen Namen habe und brauche ich nicht. Und wie du sagtest – ich bin ein Tier. Das reicht doch.“
Die Biene erwiderte nichts. Sie schaute nur – das Schnabeltier wusste nicht genau, wie es das deuten sollte –, anscheinend beleidigt drein, und flog wortlos davon.
Einige Tage später – das Schnabeltier saß im Schatten einer großen Zypresse und versuchte, in den Mustern ihrer Rinde verborgene Botschaften zu entdecken –, da hörte es ein sonderbares Geräusch.
Wie das Flirren heißer Luft, das plötzlich zu klingen beginnt – trocken, pulsierend, eindringlich.
„Was bist du?“ fragte eine Stimme von der anderen Seite des Stammes.
„Ich bin ein Tier auf der Suche nach sich selbst und auf Wanderschaft durch die Welt“, antwortete das Schnabeltier.
„Ich bin eine Zikade. Und wenn du ein Tier auf der Suche bist, das die Welt erkunden möchte, dann rate ich dir, nach Westen zu reisen. Dort versammelt sich der Sonnenrat – das sind die edelsten und klügsten Anführer der redlichen Tiere dieses Territoriums.“
Das Schnabeltier bedankte sich für den Hinweis und lauschte noch eine Weile dem schnellen, sich endlos wiederholenden Zittern in der Luft – schwirrend, flimmernd.
Wie viele winzige Wassertropfen, die auf einmal über heiße Steine tanzen und dabei ein flatterndes, vibrierendes Wispern erzeugen – nicht melodisch, sondern konstant, fast wie das Summen eines unsichtbaren Fadens, der gespannt in der Sonne vibriert.
Schließlich riss es sich von der Erfahrung dieses Klanges los und brach auf – in Richtung der untergehenden Sonne.
Nach einiger Zeit wurde das Land immer fruchtbarer. Die Flussläufe breiteten sich aus, die Vegetation wurde üppiger, die Luft frischer, und das Schnabeltier begegnete auf seinem Weg einer wachsenden Zahl von Tieren unterschiedlichster Gattungen. Alle schienen sie bester Laune zu sein und hegten, soweit man das beurteilen konnte, eine hohe Meinung vom Sonnenrat.
Das Schnabeltier fühlte sich nicht direkt unwohl – doch hatte es das merkwürdige Gefühl, beobachtet zu werden. Der Weg führte über eine grasbewachsene Lichtung, auf der einige vereinzelte Felsen lagen, als es bemerkte, wie für einen kurzen Moment ein Schatten die Sonne verdunkelte.
Ein lautes Zischen durchschnitt die Stille. Dann setzte sausender, brausender, wirbelnder Wind ein, sodass das Schnabeltier seine Augen schützen musste. Ein letztes, mächtiges Wedeln gewaltiger Schwingen ließ die Luft erzittern, bevor ein dumpfes, wuchtiges Poltern das Getöse beendete. Begleitet vom kratzenden Scharren scharfer Krallen auf Fels nahm das Schnabeltier langsam seine Vorderpfoten vom Gesicht und blickte auf.
Ein gigantischer Andenkondor thronte auf einem der – nun geradezu winzig erscheinenden – Felsen.
„Ich bin Solanaco, Bannerträger und Herold des Sonnenrates der makellosen Harmonie, dem erhabenen Bund der Bewahrer des Friedens. Unser verehrter Oberster Kanzler, Kanzler der Ordnung und der Ästhetik, seine Eleganz Belphasar von Schwarzfeder, hat mir aufgetragen, Euch eine Botschaft zu überbringen“, schmetterte der riesenhafte Vogel mit klarer Stimme dem Schnabeltier entgegen.
Dieses unterbrach ihn vorsichtig, jedoch mit höflichem Erstaunen: „Mir?“
„Ja, Euch – jenem sonderbaren Wesen, das von sich behauptet, keinen Namen zu tragen und sich lediglich als das Tier bezeichnet.“
„Ein Tier“, erwiderte das Schnabeltier leise.
Der Kondor blickte grimmig von seinem Felsen herab. „Behaart mit Fell, Schwimmhäute an den Pfoten, ein Schnabel im Gesicht – jedoch kein harter, sondern ein ledriger. Und – laut verlässlicher Berichte unserer Informanten – eine gefährliche, verborgene, giftige Waffe an der Ferse tragend. Das seid doch Ihr,
oder nicht?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort:
„Folgt diesem Weg nach Westen. In etwa zwei Stunden werdet Ihr einen verfallenen, steinernen Tempel der Menschen erreichen. Dort sollt Ihr Euch zur Audienz beim Sonnenrat einfinden. Habt Ihr mich verstanden?“
Der Kondor griff beiläufig nach einem Stein, nahm ihn in seine Klaue und zerdrückte ihn spielerisch zu feinem Staub. „Ich fliege voraus und werde Euch ankündigen.“
Nachdem das fliegende Ungetüm sich wieder in die Lüfte erhoben hatte und über den Baumspitzen verschwunden war, stapfte eine kleine Spitzmaus wütend aus dem Unterholz. Sie stemmte ihre winzigen Fäustchen in die Hüften und brüllte ihm hinterher:
„Ja, ja! Große Auftritte hinlegen, die kleinen Leute einschüchtern und Einladungen aussprechen, die nichts anderes als Drohungen sind – darin sind sie gut, die hohen Herren und die ach so edlen Damen der Allianz der reinen Linien! Aber wenn unsereins in einem kargen Winter mal nichts zu…“
Zwei andere Spitzmäuschen erschienen hastig und zerrten sie zurück ins Geäst, unter verdorrte Blätter, in denen sie offenbar versteckte Gänge und Tunnel angelegt hatten.
„Du solltest gehen“, sagte eine von ihnen noch zum Abschied, bevor sie ebenfalls verschwand.
Das Schnabeltier folgte dieser Empfehlung – weniger aus Gehorsam oder sogar aus Furcht, als vielmehr aus Neugier.
Nach der angekündigten Zeit erschienen in der Ferne die Ruinen einer wohl einst prachtvollen Tempelanlage, die hier und da zwischen den Bäumen hervorragten. Es hatte sich Zeit gelassen – das Schnabeltier –, und es würde wohl noch eine Weile dauern, bis es das große Hauptgebäude mit dem Vorplatz erreichte.
Pünktlichkeit – oder besser gesagt, das Verständnis von Pünktlichkeit, wie es bei vielen Tieren verbreitet war – war ohnehin so eine Sache, die das Schnabeltier nie recht nachvollziehen konnte. Natürlich sollte man die Zeit des anderen achten, doch diese pedantische Versessenheit auf Prinzipien, nur um der Prinzipien willen – nein! Das erschien ihm übertrieben.
Bald schon ragten die ersten imposanten Steinquader, überzogen mit bröckelnden Reliefs, links und rechts von ihm empor. Für einen Moment dachte das Schnabeltier darüber nach, ob es wohl angemessen war, dass die Regierung der Tiere – der Sonnenrat – ihren Sitz ausgerechnet in einer ehemaligen heiligen Stätte der Menschen hatte. Doch es wollte sich kein Urteil erlauben. Es würde diese edlen Herrschaften ja bald persönlich kennenlernen – und war schon sehr gespannt auf die Erfahrung.
Als das Schnabeltier den großen Vorplatz erreichte, wurde es von zwei Braunbären empfangen, die vor einem alten Torbogen Wache hielten. Schweigend traten sie zur Seite und gaben den Durchgang frei. Der Anblick, der sich dem Schnabeltier bald bot, wirkte fast wie ein wohlinszeniertes Bühnenbild eines alten Theaterstücks.
Es schritt einen kurzen Gang entlang, gesäumt von grob behauenen Steinblöcken, und während es ging, hörte es die ruhige, verkündende Stimme des Kondors, der seine Ankunft ankündigte. Der Korridor öffnete sich – und das Schnabeltier fand sich im Zentrum eines Halbrunds aus thronartigen Gebilden wieder.
Einige dieser „Throne“ waren mit bunten Stofffetzen und Überbleibseln menschlicher Zierde geschmückt, andere mit prächtigen Blüten, kunstvoll gewundenen Ranken oder dichten Teppichen aus Efeu. Zwischen ihnen standen verfallene Statuen und kunstvoll behauene Tafeln, die größtenteils von Moos überwachsen waren. Hinter dem größten steinernen Thron, der genau in der Mitte des Halbrunds stand, führte eine Treppe in das Innere des ehemaligen Haupttempels – offenbar das hochherrschaftliche Domizil des Sonnenrats.
Auf diesem imposantesten aller Sitze hatte sich der Oberste Kanzler niedergelassen.
Das Schnabeltier ertappte sich bei dem Gedanken, wie es die Situation innerlich ein wenig ins Lächerliche zog – etwas, das ihm selten geschah. Denn die Erscheinung Belphasars von Schwarzfeder hatte es gleichermaßen überrascht, beeindruckt – und, ja, ein wenig eingeschüchtert.
Belphasar – Anführer des Sonnenrats der Harmonie – war ein majestätisches, fast unheimlich erhabenes Wesen.
Er war der Erbe einer uralten Pfauendynastie, und das sah man in jeder Faser seines prunkvollen Gefieders. Seine Gestalt war hochgewachsen, schlank, und dennoch kraftvoll – mit einer Haltung, steif wie von einer Zeremonie, als wäre jede seiner Bewegungen von jahrhundertelanger Etikette gelenkt.
Anders als gewöhnliche Pfauen, die mit schillernden Farben prahlten, trug Belphasar Schwingen von tiefstem Schwarz – Tinte auf Federn –, durchzogen von feinen Linien in einem silbrig-anthrazitfarbenen Glanz. Diese Linien wirkten wie runenartige Muster, und wenn er seine Schwingen entfaltete, war es, als wüchse die Dunkelheit selbst aus seinem Rückgrat.
Sein Schweif war ein Schleier aus langen, peitschenden Federn, deren Augenflecken wie geschlossene Lider erschienen – als trüge sein Gefieder die verschlossenen Augen alter Wahrheiten. Die Federn bewegten sich kaum im leichten Wind, als wären sie dem starren Willen einer höheren Ordnung unterworfen.
Sein Kopf war schmal, fast reptilienhaft geformt. Seine Augen: tief, glanzlos – wie alter Graphit. Das Schnabeltier dachte bei sich: „Wer dort zu lange hineinblickt, vergisst vielleicht, was Freiheit einst bedeutete.“
Über seinem Haupt war in den Stein eine goldene Plakette eingelassen – eine schlichte Sonnenscheibe.
Belphasar erhob nun seine seidenweiche Stimme und wandte sich direkt an das Schnabeltier. Mit einem Mal wurde es aus seinen Gedanken gerissen, zurück in die gebotene Szenerie, noch ehe es die Gelegenheit gehabt hatte, die übrigen Ratsmitglieder genauer zu mustern.
„Seid willkommen, teurer Freund. Es freut mich außerordentlich, dass Ihr Euch doch noch entschlossen habt, unserer Einladung zu folgen und unsere Gastfreundschaft anzunehmen. Verlieren wir keine weitere Zeit und schreiten zur traditionellen Befragung und Anhörung – sowie der anschließenden Vertrauensrunde, streng nach dem Protokoll.“
Während er sprach, hob er den Blick und ließ ihn durch die Runde seiner Ratskollegen wandern.
Das Schnabeltier wollte gerade antworten, als es den stechenden Blick in seinem Rücken spürte – der Andenkondor saß auf einem Baum, schräg hinter ihm – und es schwieg.
„Sehr gut. Darf ich also den Hüter des Wissens bitten, dem Rat einen Überblick zu verschaffen? Bitte, Ba’Omari, fangt an.“
Mit einer leichten Bewegung seines Kopfes wies er in Richtung eines wirklich beeindruckenden Elefanten, der ganz zu seiner Rechten im Halbkreis des Rates Platz genommen hatte.
Dieser saß auf einem kleinen Steinpodest, das mit feinen Stoffen gepolstert war. Neben ihm lagen bergeweise kleinere und größere Holztäfelchen, auf denen wohl allerlei eingeritzt war. Ba’Omari nahm drei dieser Tafeln mit seinem mächtigen Rüssel, hielt sie sehr nahe vor seine Augen – als hätte er Mühe, die Schriftzeichen zu entziffern – und warf sie gleich darauf achtlos zurück auf den Haufen. Er räusperte sich, was die gesamte Masse seines Körpers in leichte Schwingung versetzte, und begann zu sprechen:
„Sehr geehrte Ratskollegen,
hier vor uns steht ein Tier, dessen Name uns – trotz ausführlicher Nachforschungen und wiederholtem Nachfragen – nicht bekannt ist. Dies beschämt mich persönlich sehr. Das Studium unserer Archive hat jedoch eindeutig ergeben, dass dieses Tier der Gattung der Schnabeltiere zuzuordnen ist. Sämtliche Merkmale sprechen dafür.
Das bedeutet folgerichtig auch, dass die Informationen über die Bewaffnung des … Gastes zutreffen dürften, sofern es sich – was die Körpergröße vermuten lässt – um einen männlichen Vertreter dieser Spezies handelt. Sollten Damen und Herren des Rates weiterführende Informationen über die Schnabeltiere im Allgemeinen wünschen, so kann ich gern im Anschluss ergänzend Auskunft geben. Alternativ könnten wir dies im Verlauf der Befragung des Gastes selbst klären.
Was die Waffe betrifft, so scheint es mir angemessen, hierzu auf die Einschätzung von General Bharyan oder – besser noch – auf die Expertise unseres geschätzten Kollegen Ratrasénn zu verweisen. Das dürfte eher in deren Metier fallen.
Ich danke Euch.“
Mit diesen Worten schloss der Elefant seine Ausführungen. Ein stolzer Tiger mit glänzendem Fell und ein etwas zwielichtig wirkender Schneeleopard, die direkt links neben dem Kanzler saßen, warfen sich einen kurzen Blick zu, schüttelten kaum merklich die Köpfe und nickten sich dann, einander verstehend zu.
„Habt Ihr wirklich keinen Namen, oder meidet Ihr seine Nennung, weil er Euch vielleicht unangenehm ist? Versucht Ihr womöglich, Euch mit einer gewissen mystischen Aura zu umgeben? Wenn Euch Euer Geburtsname nicht zusagt – oder wenn Ihr ihn nicht kennt –, so wäre es gewiss kein Problem, Euch selbst einen Namen zu geben. Ganz nach Belieben, versteht sich – im Rahmen des Anstandes und der Vernunft, natürlich. Es handelt sich im Grunde nur um eine Formsache. Ihr versteht?“
Das Schnabeltier hatte gar nicht bemerkt, dass es nun wohl tatsächlich etwas erwidern sollte – oder dass man überhaupt ein Gespräch mit ihm führen wollte.
„Entschuldigt bitte vielmals …“
Ein Zucken durchfuhr seinen Körper. Es erschrak. Unvermittelt stand erneut ein Vogel vor ihm. Diesmal hatte sich kein einziges Geräusch in sein Bewusstsein geschlichen.
„Hallo – und noch einmal, ganz persönlich: Herzlich willkommen. Ich bin der Diplomat in dieser heiteren Runde. Elorelius der Dritte, sehr erfreut.“
Ein beeindruckender Ara stand vor dem Schnabeltier. Das Blau seines Gefieders war satt, intensiv und von einer fast samtigen Tiefe – Hyazinthblau. Sein Schnabel war kräftig, und die goldgelben Kränze um seine Augen verliehen seinem Blick einen wachen, ehrlichen Ausdruck. Er hatte eine besondere Präsenz – nicht schlecht für einen Diplomaten. Und dieses Blau …
Dem Schnabeltier schossen unwillkürlich und blitzartig Bilder durch den Kopf: reife Pflaumen im Schatten, der Ozean bei Sonnenaufgang, ein Gespräch mit dem Chamäleon, das ihm einst von der Wirkung der Farben auf den Geist berichtet hatte.
Blau, so sagte es, stehe für Zuverlässigkeit und Klarheit. Es wirke beruhigend und wecke Vertrauen.
Es funktionierte.
„Verzeiht, Elorelius. Ich war im Moment einfach überwältigt von all den Eindrücken“, entschuldigte sich das Schnabeltier höflich.
„Nein, einen Namen habe ich nie erhalten. Und tatsächlich wurden Tiere mit meinem äußeren Erscheinungsbild von den Menschen vor vielen Jahrhunderten Schnabeltiere genannt.“
Es bemerkte, dass der Ara mit dieser Antwort wohl noch nicht ganz zufrieden war – und ergänzte:
„Normalerweise erhalten junge Schnabeltiere ihren Namen von der Mutter, kurz bevor sie den Bau verlassen – abhängig von ihrem Verhalten, ihrem Charakter und ihren übrigen Eigenschaften.
Meine Mutter war nicht da, als ich den Bau verließ. Und ich selbst kannte mich nicht gut genug, um mir einen passenden Namen zu geben.
Heute sehe ich weder die Notwendigkeit noch den Nutzen, einen zu wählen.“
Elorelius hörte dem Schnabeltier aufmerksam zu, während er es zugleich interessiert und verständnisvoll ansah. Und als er ein oder zwei Sekunden gewartet hatte, um ganz sicherzugehen, dass es ausgesprochen hatte, entgegnete er:
„Wenn das die Tradition eurer Art ist, verstehe ich, warum ihr namenlos seid. Falls ihr euch jedoch dazu entschließen wolltet, in unseren Landen zu leben, so solltet ihr wissen, dass es hier Brauch ist, dass jeder Bürger und jede Bürgerin einen Namen trägt.
Lassen wir doch die gesetzlichen und formellen Spitzfindigkeiten zunächst beiseite. Ihr habt – recht beiläufig – das Thema eurer… Bewaffnung ausgelassen.“
Seine Stimme betonte den Satz so, als sei er eine höfliche Nachfrage gewesen.
„Warum ist euch das so wichtig? Ja, ich habe einen Giftdorn – also, ich glaube, dass er giftig ist. Benutzt habe ich ihn noch nie, und meistens denke ich gar nicht daran“, antwortete das Schnabeltier schulterzuckend.
Der Schneeleopard zur Linken des Kanzlers lehnte sich leicht nach vorn über sein Podest. In monotonem Tonfall kommentierte er, während er flüchtig in Richtung des Schnabeltiers und Elorelius’ blickte, sich dann aber dem eigentlichen Adressaten seiner Worte, dem Kanzler, zuwandte:
„Gestatten, Ratrasénn. Auch wenn unser Gast selbst nicht weiß, ob und wie giftig sein Dorn ist – es gehört zu meinen Aufgaben, so etwas zu wissen.“
Seine Augen waren leicht milchig getrübt und mussten einst bernsteinfarben gewesen sein; doch dahinter loderte immer noch ein unheimliches Feuer. Sein Fell hatte die Farbe von Nebel, ein verwaschenes Dunkelgrau. Alles, was er sprach, klang ruhig, wohlüberlegt – und endgültig.
Wenn schon die Ausstrahlung und der Blick des Kanzlers einem einen kalten Schauer über den Rücken jagen konnten, so war es die Präsenz von Ratrasénn, die einem die eigene Sterblichkeit ins Bewusstsein rief.
„Das Gift unseres Gastes ist für die meisten unserer Bürger nicht tödlich. Eine Lebensgefahr bestünde nur für die Kleinsten, Jüngsten und Schwächsten. Es ist jedoch geeignet, extreme Schmerzen und Lähmungserscheinungen über sehr lange Zeit zu verursachen. Es gibt kein bekanntes Gegenmittel – und kaum eine Möglichkeit der Linderung.“
Er hielt inne, als wählte er seine nächsten Worte mit besonderer Bedacht.
„Es ließe sich zwar über einen Nutzen nachdenken, aber das ist ja nun nicht Gegenstand dieser Anhörung.“
Mit diesen Worten lehnte er sich zurück, und sein Gesicht verschwand wieder im Schatten des schlichten Baldachins aus Blättern und Bambus über ihm.
Das Schnabeltier wusste immer noch nicht so recht, was es von den Ratsmitgliedern, ihren bisherigen Einlassungen und der ganzen Veranstaltung halten sollte.
Worum ging es hier denn nun eigentlich?
Gerade wollte es diese einfache Frage stellen, als der oberste Kanzler Belphasar wieder das Wort ergriff:
„Danke für euren Bericht, Ratrasénn. Das soll für den Moment genügen. Bevor wir zum Ende der Befragung und Anhörung kommen, zur Vertrauensrunde übergehen…“
Elorelius sah das Schnabeltier an, dann blickte er kurz zum Kanzler und flog zurück auf seinen Platz im Halbkreis.
„… und unsere höchst ehrenvolle Cygnaria das Ergebnis verkünden wird, hören wir nun abschließend – wie es der Brauch verlangt – den Bewahrer der Traditionen: Oront Pfadwahrer, Ihr habt das letzte Wort.“
Ein sehr robustes Pferd mit kompaktem Körperbau, beigem Fell und kurzer, aufrecht stehender Mähne hatte sich bereits von seinem Sitz erhoben, als der Kanzler zu sprechen begonnen hatte.
Unmittelbar nachdem dieser geendet und ihm das Wort erteilt hatte, erhob es in pathetischem Ton seine Stimme:
„Hoch verehrte Mitglieder dieses altehrwürdigen Rates, es mag den Anschein haben, als ginge es hier nur um eine kleine Formalität. Einige Mitglieder haben im Vorfeld gar angezweifelt, ob hierfür überhaupt eine Ratssitzung notwendig sei. Doch in Wahrheit geht es hier um alles, was unsere Gesellschaft, unsere Gemeinschaft, unsere Art zu leben im Innersten ausmacht – und zusammenhält.
Allen Ratsmitgliedern ist meine Position hinlänglich bekannt. Ich bitte um die Vertrauensrunde.“
Die Nüstern des Pferdes hatten sich bei diesen wenigen Worten sichtlich geweitet. Es schnaubte einmal kurz und nahm wieder Platz.
Der Kanzler breitete seine schwarzen Flügel aus, schaute bedeutungsvoll nach links und rechts in die Gesichter seiner Kollegen und verkündete dann:
„So sei es, die Vertrauensrunde ist hiermit eröffnet!“
Das Schnabeltier, welches zwar irgendwie Gegenstand dieser ganzen Ereignisse war, verstand doch immer weniger, was genau hier gerade geschah.
Es beobachtete den Halbkreis und die einzelnen Akteure. Fast jeder war nun zu Wort gekommen. Neben dem Pferd – Oront Pfadwahrer – saß ein wunderschöner weißer Schwan. Dies musste wohl Cygnaria sein, die später das Ergebnis bekannt geben sollte. Was auch immer das heißen mochte.
Das einzige andere Tier, von dem es bisher noch nichts gehört hatte, war eine Schlangendame neben dem Elefanten Ba’Omari. Sie hatte eine rotbraune Haut mit helleren, schwarz umrandeten Flecken und einer gelblichen Bauchseite. Über ihrem gesamten Körper lag ein zauberhafter Schimmer, der in allen Farben des Regenbogens funkelte.
Die Ratsmitglieder unterhielten sich untereinander – die meisten flüsternd, einige etwas lauter –, doch das Schnabeltier konnte in dem Stimmengewirr nichts verstehen.
Nach und nach legten sie verschiedenartige Steine vor sich ab. Das Schnabeltier sah zwei blaue Steine, zwei grüne Steine, drei rote Steine – noch hatte nicht jeder einen Stein gelegt, und es konnte sich immer noch keinen Reim aus dem seltsamen Treiben machen.
Das Schnabeltier beschloss einfach in Ruhe abzuwarten und sich überraschen zu lassen.
Es war gespannt was am Ende dieses ganzen Tumultes heraus käme und was der Rest des Tages bringen würde.
„Wo wir grade vom Rest des Tages sprechen - meine geschätzte Zuhörerschaft – so viel ist davon nicht mehr übrig und der alte Azeem hat noch etwas Arbeit zu erledigen, morgen werde ich die Geschichte fortsetzen.“ Verabschiedete sich der alte Mann, stand unter Protest der Kinder auf, bedankte sich für die Aufmerksamkeit, während er ein paar Kredite zugesteckt bekam und zog sich in seinen Wohncontainer zurück.
Anmerkung von J.B.W:
... Fortsetzung folgt.