Es begann an einem grauen Dienstagabend im heruntergekommenen Kulturzentrum „Alte Tramhalle“ in Berlin. Der Regen prasselte schief gegen die Scheiben, und der Neonstreifen im Flur brummte.
Raum 3 roch nach feuchtem Holz, Kaffee und einer Ahnung von Müdigkeit. Sechs Menschen saßen im Stuhlkreis, nicht aus freiem Willen, sondern weil man ihnen gesagt hatte, Integration beginnt mit Sprache.
Die Kursleiterin, Anna Berg, fünfzig, warmherzig und etwas chaotisch, räusperte sich:
„Heute reden wir … nur reden. Ohne Grammatik. Thema: Was hat euch hierhergebracht?“
Zunächst Stille. Dann begann er:
Sami, Syrer, 28
Er nahm den Mut wie einen Stein in die Hand.
„Ich wollte Häuser bauen. In meiner Stadt. Für Kinder, nicht für Soldaten. Dann brannten die Häuser. Ich bin gekommen, um nicht selbst zu brennen.“
Er sah auf seine Finger.
„Ich habe keine Angst mehr vor dem Tod – nur davor, bedeutungslos zu sterben.“
„Du bist nicht bedeutungslos“, murmelte Anna, doch er hörte sie nicht.
Kateryna (Katja), Ukrainerin, 32
„Ich war Krankenschwester. Ich weiß, wie Menschen sterben, wenn sie eigentlich noch hätten leben können.“
Ihre Stimme wurde dünn.
„Ich hasse niemanden, aber ich vertraue auch niemandem mehr, der sagt: Es musste so sein.“
Sie schaute niemanden an – besonders nicht den jungen Mann ihr gegenüber.
Ilja, Russe, 19
Er zog die Kapuze tiefer.
„Ich habe nichts entschieden. Ich habe nur das Pech, die falsche Staatsbürgerschaft im Ausweis zu haben.“
Dann plötzlich scharf:
„Ihr glaubt, wir sind alle Täter. Aber ich bin weggelaufen, weil ich kein Soldat werden wollte. Ich wollte leben, nicht büßen.“
Kateryna hob den Blick.
„Ich glaube nicht, dass du Täter bist. Aber auch nicht automatisch Opfer.“
Er zuckte zusammen, als hätte sie ihn geschlagen.
„Also was bin ich dann?“
„Jemand, der wählen kann.“
Er schwieg.
Dror, Israeli, 45
„Ich habe gelernt, dass man auch gewinnen und trotzdem verlieren kann.“
Die anderen schauten irritiert.
Er nickte nur:
„Wenn man Menschen verliert, weil man um Land kämpft, kann man nie mehr ganz gewinnen.“
Er klopfte auf sein linkes Bein, das mühsam mitarbeitete.
„Manchmal ist Frieden nur ein Wort, solange wir es nicht im anderen suchen.“
Leila, Palästinenserin, 56
Ihre Stimme war leise, aber klar.
„Ich habe gelernt, dass mein Schmerz nicht größer ist, weil er älter ist. Und dass seine Wurzeln nicht entscheiden, wer durstig ist.“
Sie schaute zu Dror.
Er hielt ihrem Blick stand.
Lange.
„Wir sollen Feinde sein“, sagte sie.
„Sagen sie“, antwortete er.
„Wer sind sie?“, fragte Anna.
Leila schloss die Augen.
„Die, die leben, ohne zuzuhören.“
Der deutsche Satz
Anna nahm einen tiefen Atemzug.
„Ich stelle euch eine Frage – beantwortet sie nacheinander, und nur mit einem einzigen Satz:
Was wünscht ihr dem Menschen, der euch am meisten wehgetan hat?“
Stille füllte den Raum wie Nebel.
Sami: „Ich wünsche ihm, dass er einmal seinen eigenen Sohn liebt, statt einen Staat.“
Kateryna: „Ich wünsche ihm, dass er erkennt, wie viel Mut Stille kostet.“
Ilja: „Ich wünsche ihm, dass er zum ersten Mal in seinem Leben Angst um jemanden empfindet, nicht vor jemandem.“
Dror: „Ich wünsche ihm, dass er begreift, dass man ein Herz nicht erobern kann.“
Leila: „Ich wünsche ihm, dass er einen Menschen findet, den er nicht hassen darf.“
Anna: „Ich wünsche ihnen, dass sie lernen, zu sagen: Vielleicht habe ich mich geirrt.“
Keiner applaudierte.
Niemand brach zusammen.
Aber die Luft war nicht mehr dieselbe.
Als sie hinausgingen, regnete es noch immer.
Doch diesmal sagte niemand, es sei schlechtes Wetter.
Denn sie hatten begriffen:
Der schlimmste Sturm wohnt nicht am Himmel, sondern im Menschen, der glaubt, er sei allein.
Und wer einen anderen hört, selbst nur für eine Stunde,
hat bereits eine Brücke gebaut, die länger hält als jede Grenze.
©Sigrun Al-Badri/ 2025