Der ausrangierte Weihnachtsbaum

Kurzgeschichte zum Thema Vergänglichkeit

von  Saira

Da lag er nun, krumm und kahl, wie ein alter Mann, der auf die letzten Tage seines Lebens wartet. Ein Schatten seiner selbst, der einst in voller Pracht erstrahlte, geschmückt mit bunten Kugeln und glitzernden Lichtern, die das Herz der Menschen erfreuten. Er war der Stolz der Familie Liebreiz, der Mittelpunkt der festlichen Feierlichkeiten, umringt von fröhlichem Lachen und dem Duft von frisch gebackenen Plätzchen.

 

Die Erinnerungen an die strahlenden Kinderaugen, die ihn bewunderten, schmerzten ihn. Besonders lebhaft erinnerte er sich an einen Weihnachtsabend, als die Familie Liebreiz um ihn versammelt war. Die Kinder hatten mit leuchtenden Augen die bunt verpackten Geschenke unter seinen Zweigen entdeckt. Als sie sie öffneten, sprangen sie vor Freude auf und ab. Lachen und Glück durchströmten in diesem Moment den ganzen Raum und waren für den Baum wie ein warmer Sonnenstrahl an einem kalten Wintertag. Er fühlte sich geliebt und geschätzt, als die Familie um ihn herumtanzte und sang.

 

Doch jetzt, in der Kälte des Januars, fühlte er sich wie Opa Richard, den die Familie Liebreiz zu Heiligabend aus dem Heim geholt hatte. Der saß immer ganz dicht bei ihm, blickte zu den Lichtern und murmelte vor sich hin. Auf diese Weise erfuhr er von Opa Richard, dass dieser im Sommer im Pflegeheim untergebracht worden war. Der Weihnachtsbaum ließ seither vor lauter Mitgefühl einen Ast hängen.

 

Die Kugeln und Lichter, die einst so liebevoll an ihm hingen, wurden nach Neujahr entfernt. „Ich habe mein Bestes gegeben“, dachte er, während ihn der kalte Wind umwehte. „Ich habe Herzen erwärmt, eine Familie glücklich gemacht. Und jetzt? Jetzt stehe ich hier, am Straßenrand.“

 

Plötzlich hörte er eine Stimme neben sich. „Hey, du da!“, rief ein anderer ausrangierter Baum, der ebenfalls am Straßenrand stand. „Komm schon, lass den Kopf nicht hängen!“

 

„Was soll ich tun?“, seufzte der Weihnachtsbaum. „Ich fühle mich einsam und vergessen.“

 

„Vergessen? Wir haben gelebt!“, erwiderte der andere Baum mit einem Hauch von Stolz.

 

„Ja, aber das ist vorbei“, murmelte der Weihnachtsbaum.

 

„Vielleicht“, sagte der andere Baum nachdenklich.

 

Passanten schauten kurz auf die beiden Bäume herab, einige schüttelten den Kopf, andere lächelten mitleidig. „Die Armen“, flüsterte eine alte Dame.“

 

Gerade kam die Müllabfuhr um die Ecke gefahren …

 

 

 

 

©Sigrun Al-Badri/ 2025



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Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (06.01.25, 14:55)
Hallo Sigi,

Vergänglichkeit stimmt mich wehmütig. Aber deine melancholische Geschichte hält auch einen Trost bereit: Es kommt darauf an, sein Leben gelebt zu haben.

Herzliche Grüße
Ekki

 Saira meinte dazu am 07.01.25 um 09:43:
So sehe ich es auch, lieber Ekki.
 
Danke und herzliche Grüße
Sigi

 Moja (06.01.25, 17:29)
Hallo Sigi,

ja, da liegen sie nun am Straßenrand, Baum an Baum, und duften nicht mehr, ein bisschen Wehmut schleicht sich ein; werden sie verheizt, wird uns noch mal warm ums Herz  8-)

Mit immergrünen Grüßen,
Moja

 Saira antwortete darauf am 07.01.25 um 09:44:
Danke, liebe Moja, für deine logische Folgerung  :)
 
Liebe Grüße
Sigi

 plotzn (07.01.25, 10:11)
Servus Sigi,

der Baum soll sich nicht so haben. Ich wurde mein ganzes Leben noch nie so prächtig geschmückt!

Gut, ein paar Tage später am Straßenrand ausrangiert zu werden, ist jetzt auch nicht erstrebenswert... :(

Liebe Grüße
Stefan

 Saira schrieb daraufhin am 07.01.25 um 10:32:
Servus Stefan,

wozu sollte sich ein schmuckes Kerlchen wie du noch zusätzlich schmücken wollen?   

Liebe Grüße
Sigi

 Teo (07.01.25, 11:18)
Moin Sigi,
Weihnachten ohne Baum? Undenkbar!
Ganz in rot, und...keine LED Lichter.
Noch die alten Starkstromkerzen. Da bin ich doch sehr konservativ.
Apropos geschmückt.. wenn ich so manche Fußballinfizierte, eh schon mächtig groß, mit Schal, Trikot und Bommelhut und natürlich die Lampe an, sehe, dann kommt doch zarter Neid in mir hoch. Doch manche leider in der falschen Farbe.
Es Grüßt 
Teo

 Saira äußerte darauf am 07.01.25 um 18:52:
Moin Teo,

ja, ein Weihnachtsbaum gehört auch für mich zu Weihnachten dazu. Seitdem wir unsere Bengalen-Kater haben, müssen wir das Bäumchen gut an der Wand "verankern", damit sie ihn nicht umschmeissen :) . Die beiden Racker sind sehr verspielt und erstklassige Turner.

Tja, dein Baum ist rot? Müsste er nicht blau-weiß sein? Wenn schon Fußballfarben, dann doch bitte braun-weiß!

Liebe Grüße
Sigi

 Teo ergänzte dazu am 07.01.25 um 19:01:
Jau, deine Frage ist berechtigt.
Mh...blau weiß...ne, bei aller Liebe, das passt nicht.
Braun-weiß. Ich weiß warum. Deine Fußballpiraten.
Aber...sechs Wochen vor den Wahlen? Sigi Sigi....lieber nicht.
Nachweihnachtliche Grüße 
Teo

 Saira meinte dazu am 07.01.25 um 19:11:
Ich verhau dich gleich mit meinem St.Pauli-Shirt. Jawoll!!!

 TassoTuwas (07.01.25, 12:38)
Liebe Sigi,
ich bin mal Optimist.
 
Vielleicht würden sich die Bäume erzählen, dass sie der Mittelpunkt des Festes waren, wie sie sich in den strahlenden Kinderaugen gespiegelt haben und dass das ihr Traum vieler Jahre im Wald war.

Das schafft kein künstlicher Baum, auch keiner aus dem 3D-Drucker, oder was es sonst Modernes zu kaufen gibt, das geht eben nur mit einem richtigen Weihnachtsbaum.

Herzliche Grüße
TT

 Saira meinte dazu am 07.01.25 um 18:55:
Lieber Tasso,

die künstlichen Bäume können auf keinen Fall die echten ersetzen. Es muss schon ein echter sein.

Dein Gedanke ist schön :) 

Danke und liebe Grüße
Sigi
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