Frau Steilzahn und die Autositze

Kurzgeschichte zum Thema Fassade

von  Saira

An einem Spätsommernachmittag saßen Jolante Steilzahn und ihre Bekannte Ursula Fröhlich auf einer Holzbank im Park und unterhielten sich. „Nun sagen Sie mal ganz ehrlich, Frau Fröhlich, ist das nicht schrecklich, wie sich die beiden jungen Leute da vorne fast nackig auf der Wiese präsentieren? Also, Schamgefühl kennt die Jugend von heute wohl gar nicht“, empörte sich Frau Steilzahn. Die Angesprochene rückte ihre Brille zurecht, schaute neugierig über den Rand hinweg auf einen gutgebauten, jungen Mann, der sich gerade zu seiner hübschen Freundin herunterbeugte und sie innig küsste. „Aber, aber, Frau Steilzahn, nur nicht neidisch werden. Die beiden können sich doch wahrlich sehen lassen, und wo bitte schön sind die nackig? Wäre ich noch so vorzeigbar, hätte ich mir heute auch viel lieber Shorts angezogen als diesen ollen Rock. Außerdem sehe ich es gerne, wenn zwei Menschen so verliebt sind.“ „Frau Fröhlich, ich muss mich doch wirklich wundern. Früher wurde noch Wert auf Anstand gelegt. Für mich gibt es nur einen Mann, meinen Eduard, und das seit fast fünfzig Jahren“, betonte Frau Steilzahn leicht verschnupft.

„Wo haben Sie denn da gelebt? Zu unserer Zeit begann doch die sexuelle Revolution und das Leben der freien Liebe. Erinnern Sie sich nicht? Das war Ende der 50er. Da begann eine heiße Zeit“, kicherte Frau Fröhlich.

„Was, da haben Sie mitgemacht? Das hätte ich nicht von Ihnen gedacht, wirklich nicht. Das ist ja geradezu beschämend“, ergänzte Frau Steilzahn pikiert und rückte demonstrativ ein Stück von der Bekannten ab. „Wie gut, dass Ihr verstorbener Mann diesen Teil Ihres Lebens nicht mehr erfahren hat“, fügte sie noch hinzu.

Frau Fröhlich prustete los und erklärte: „Meinen Jupp lernte ich am FKK-Strand an der Ostsee kennen. Er trug lediglich einen Sonnenhut.“

Frau Steilzahn bekam Schnappatmung und war tiefrot angelaufen.

Plötzlich richtete sich Frau Fröhlichs Aufmerksamkeit auf einen sportlich gekleideten, älteren Herrn, der gerade des Weges kam und sich schnurstracks der Bank näherte. Der Mann lüftete seinen Hut, verbeugte sich leicht und rief erfreut aus: „Mensch, ist das schön, liebste Jolante, dich hier zu treffen. Magst du mich deiner Bekannten vorstellen?“

Frau Steilzahn brachte keinen Ton heraus. Frau Fröhlich sprang ein und stellte sich vor: „Guten Tag, ich heiße Ursula Fröhlich, und mit wem habe ich das Vergnügen?“

Der Herr deutete einen Handkuss auf Ursulas ausgestreckte Hand an und antwortete: „Ich freue mich, endlich eine Freundin meiner Verlobten kennenzulernen. Mein Name ist Franz-Josef von der Glockenalm.“

Ursula erhob sich von ihrem Platz, ihre Augen funkelten. „Verlobt? Wie aufregend! Ich wusste ja gar nichts von Ihrer Verlobung, Frau Steilzahn. Ich befand mich doch tatsächlich in dem Glauben, Sie seien schon vor Jahrzehnten in den Hafen der Ehe eingelaufen. Ich wünsche Ihnen noch einen zauberhaften Nachmittag und hoffe, dass die Autositze einigermaßen bequem sind.“

 

 

 

 

©Sigrun Al-Badri/ 2010



Hinweis: Der Verfasser wünscht generell keine Kommentare von AndreasGüntherThieme.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (29.01.25, 19:57)
so spielt das Leben, Sigi.
Im Licht der Wahrheit wird die schönste Fassade malade.
Liebe Grüße
Ekki

 Saira meinte dazu am 30.01.25 um 19:55:
Wie wahr, wie wahr, lieber Ekki. Manchmal ist das Erschrecken groß, wenn man hinter die Fassade schaut.
 
Liebe Grüße
Sigi

 TassoTuwas (30.01.25, 09:31)
Moin Sigi,

es ist ja bekannt, die Frau trifft beim Autokauf die wichtigste Entscheidung, nämlich die Frage nach der Farbe.
Dass reifere Damen auch die Bequemlichkeit der Sitze zu schätzen wissen war mir nicht bekannt.

Wieder was gelernt  :D  !
Liebe Grüße
TT

 Saira antwortete darauf am 30.01.25 um 19:57:
Aber „Hallo“, lieber Tasso, da sind einige Aspekte, die in die Überlegung mit hineinfließen sollten, denn welche reifere Dame möchte sich bei den „Lockerungsübungen“ gerne verletzen? :)
 
Liebe Grüße
Sigi

 plotzn (30.01.25, 09:51)
So ist das mit der Moral, liebe Sigi.

Die am lautesten schimpfen, tun das aus dem Schmerz ihrer eigenen Unzulänglchkeit heraus. Ich habe mich damit abgefunden, dass der Mensch nicht perfekt ist, besonders in Herne... ;)

Liebe Grüße
Stefan

 Saira schrieb daraufhin am 30.01.25 um 19:59:
Ach, lieber Stefan, da sagst du was! Nicht nur du leidest unter der Doppelmoral in Herne, auch Zwergenmenschen können ein Liedchen davon singen. :dizzy:
 
Liebe Grüße
Sigi
Zur Zeit online: