endsation sehnsucht

Kurzgeschichte zum Thema Sehnsucht

von  jds

endstation sehnsucht

Es ist kalt und es ist noch dunkel, zu regnen hat es aufgehört. Dabei kann das nicht sein. Es ist nämlich immer kalt und es regnet immer, das gehört so, gehört einfach so zusammen, am ende. Gehört so zusammen, damit man noch einmal eine gnadenfrist bekommt, ein paar stunden. Zumindest solange bis die erste bahn fährt, da man ja die letzte bahn verpasst hat, absichtlich. Absichtlich nicht auf die uhr geschaut, absichtlich zu spät auf die uhr geschaut und dann war es natürlich zu spät, absichtlich. Zu spät für die letzte bahn und es fängt an zu regen weil es sich ja so gehört und man dann noch bleiben darf, sich aufwärmen darf für den gang zur ersten bahn, um dann mit der restwärme dazustehen, im dunkeln, in der kälte, um nass zu werden vom regen.

Endstation bitte alles aussteigen sagt die stimme immer, dabei war hier der anfang. Es ging immer von der mitte bis hierher, von der mitte bis zum anfang, obwohl die stimme sagt endstation. Heute sagt die stimme nichts, die bahn kommt aus der anderen richtung kommt aus dem nichts, weil da wo sie herkommt gibt es keinen halt, haltlos. Heute schweigt die stimme, sagt nicht endstation und ich steige ein. Heute ist hier der anfang obwohl es das ende ist. Der anfang haltlos aus dem nichts kommend ist das ende, tragisch.

Es ist wie mit dem toast, morgens, einen winzigen moment zu spät die butter aus dem kühlschrank und sie ist noch hart, noch so hart das beim bestreichen die toastscheibe auseinanderbröselt. Daneben stehen marmelade und honig aber ich bin beschäftigt mir die bruchstücke mit den dicken butterflocken in den mund zu schieben. Marmelade oder gar honig ist da fehl am platz, ich rette was zu retten ist.

Von der mitte bis zum anderen ende kam ich nie oder von hier, vom anfang bis zu dem anderen ende, der letzten station, der endstation. Und jetzt finde ich das schade, vielleicht habe ich was verpasst, wenn ich mir das so recht überlege habe ich da ein komisches gefühl dabei, so was wie sehnsucht, endstation sehnsucht. Zumindest könnte ich ja jetzt weiterfahren als bis mitte. Weiterfahren, heute vom ende vom haltlosen bis zur endsation jeden einzelnen halt abwarten auch die mitte abwarten und dann weiterfahren. Weiterfahren und die verpasste gelegenheit einholen. Weiterfahren und warten ob dann die stimme irgendwann sagt endstation bitte alles aussteigen, dass wäre dann wie der anfang. Endstation muss die stimme sagen endstation sehnsucht, die sehnsucht am anfang.

Es wird langsam hell und es regnet jetzt, weil es ja regnen muss, weil es sich ja so gehört rinnen die tropfen an der scheibe herunter, vom fahrtwind in wirre bahnen gepresst. Die tropfen an der scheibe ich weiss nicht ob innen oder außen.

Eine alte frau wickelt ein brötchen aus einer papiertüte lupft das oberteil und wirft einen prüfenden blick auf den belag, rohes hackfleisch mit zwiebelringen darauf. Glückliche kühe draussen auf einer wiese rauschen am fenster vorbei. Ein glückliches rinderleben durch den wolf gedreht endet auf einem brötchen mit zwiebelringen garniert. Die frau beisst mit ihren noch verbliebenen vorderzähnen in das brötchen. Ein lächeln breitet sich über ihr gesicht aus, die metamorphose des rinderglücks.

Die zwiebeln lassen meine augen tränen, oder ist es der fahrtwind oder ist es weil es sich so gehört, am ende. Der regen ist es nicht. Ich fühle mich schlecht, das gehört auch so, dass man sich schlecht fühlt, eigentlich sogar krank, so richtig krank mit einem nicht zu lokalisierendem schmerz. Einem tiefen schmerz, einem schmerz gemischt mit übelkeit. Vielleicht sollte ich zurück, zurück zu der wiese gerade vorhin, zu der wiese mit den kühen, den glücklichen. Eine andere metamorphose versuchen, als ausgleich oder gar wiedergutmachung für das rinderhack auf dem brötchen. Ich als glückliche kuh gras fressend, sorglos. Vielleicht würde ich mich dann besser fühlen ohne schmerz, schmerzlos und es wäre mir auch nicht mehr schlecht. Diese übelkeit tief drinnen wäre dann verschwunden, vielleicht. Und irgendwann ende ich dann auch auf einem brötchen und lasse eine alte frau lächeln. Vielleicht. Aber jetzt am ende der endschmerz, da hilft auch kein rohes rinderhack von glücklichen kühen und mit zwiebeln tränen meine augen erst recht.

Die alte frau nimmt einen tiefen schluck aus einer weinflasche und lächelt wieder. Ich habe auch durst. Das gehört so, durstzuhaben. Das muss sein am ende, dursthaben nach wein, wein gegen den endschmerz, wein für den enddurst. Wein als medizin. Gehört so und wird streng verordnet immer von mir selbst als eigenmedikation und ist zum glück noch nicht verschreibungspflichtig. Wundermedizin die so nichts hilft auch wenn man noch so fest dran glaubt, außer für das lächeln, das war schon immer so, altbekannt, jedenfalls bei mir. Und man braucht mehr, ständig. Auch das gehört so, die dosis muss ständig erhöht werden, um zu lächeln muss das so sein. Wein um zu lächeln, so wie die alte frau, die hat es geschafft, mit wein und rinderhack. Sie hat es geschafft, dass mir von den zwiebeln die augen tränen.

Mir gegenüber setzt sich ein mädchen, dunkle haare, leicht rötlich gefärbt, sie gefällt mir. Ihr mund und ihre augen, sie hat bestimmt ein schönes lächeln. Ich mag das, ein schönes lächeln. Das lächeln, eigentlich die voraussetzung, dass man auch lachen kann. Ich finde das gehört so, anders ist das unmöglich, unecht. Ein echtes lachen, nicht aufgesetzt und gezwungen und wenn schon der mund kein schönes lächeln hat kann man das mit dem lachen vergessen, das wird nichts. Ich schaue den regentropfen auf der scheibe nach und lächle ihr spiegelbild an. Im hintergrund spiegelt sich die alte frau, wie sie wieder einen schluck wein aus der flasche nimmt und dann weiter vor sich hinlächelt.

Ein Mädchen und ein Gläschen Wein, sind die Retter in der Not, denn wer nicht trinkt und wer nicht küsst, der ist so gut wie tot.

Ob das mädchen goethe kennt? Ich könnte sie fragen. Ich könnte sie auch fragen ob sie mein leben retten will, wein würde ich dazu auch trinken, ich könnte ihr sagen ich habe enddurst und trinke schon wein aber das reicht ja nicht gegen den endschmerz. Ich könnte sie fragen ob sie mein leben retten will, wenn wir angekommen sind, wenn die stimme sagt alles aussteigen endstation, endstadium. Retter in der not, endnot, ich fühle mich krank im endstadium. Alle steigen aus, ich steige mit ihr aus und das wäre der anfang. Das muss dann und so sein am anfang. Wir steigen aus, ich besorge die flasche wein und sie rettet mir das leben, eigentlich ganz einfach. Ja ganz einfach, ich besorge den wein, keiner von den billigen wie bei der alten frau, sondern ein guter, von denen die was kosten. Da soll man nicht knausrig sein, in der not, wenn die rettung so kurz bevorsteht. Die rettung aus dem endstadium an der endstation. Alles aussteigen muss die stimme nur sagen und sie sie muss mitaussteigen.

Und dann trinken wir an der endstation auf den anfang. Der anfang am anderen ende, wo ich noch nie war, am anderen ende nach mitte und die bahn müsste jetzt weiterfahren, ohne halt weiterfahren und nur noch am ende halten, ab jetzt haltlos. Ich könnte sie fragen. Ich versuche weiter ihrem spiegelbild ein lächeln zu entlocken.

Ich sitze und lächele, zumindest ins fenster und sie an, lächle und lasse die regentropfen vorbei rinnen, außen und innen, auch wenn die frau schon längst keine zwiebeln mehr isst, das ist mir egal. Die alte frau sitzt da trink und lächelt ebenfalls. Ich habe auch durst, wie lange kann ich noch lächeln ohne wein.

Es wird dunkel im abteil. Mit der beleuchtung wird auch ihr spiegelbild ausgeknipst. Ihr gesicht verschwindet mit einmal aus dem fenster. Stattdessen sehe ich wieder kühe vorbeirauschen, die glücklichen versteht sich. Ich hatte noch nicht mal mehr die gelegenheit zu schauen ob sie zurückgelächelt hat. Ich schaue das mädchen mir gegenüber an. Sie dreht ihre beine zur seitenwand ihr knie berührt mein knie. Die alte frau nimmt noch einen schluck aus der weinfIasche, ich habe auch durst und ich fühle mich krank. Ich könnte sie fragen, ich muss sie fragen und keine sorge den wein besorge ich.

Sie lächelt mich an, wie um sich für die berührung zu entschuldigen. Dabei mag ich das, berührungen. Das gehört auch zum lächeln. Man läßt sich viel zu wenig berühren und dann wundert man sich, warum man nicht lächeln kann.
Ich lächle zurück und habe durst. Großen durst, nicht nur nach wein.  Ach bitte, lass mich dein Badewasser schlürfen, einmal dich dadam dadam geht mir durch den kopf ich lächle sie an und drehe meine knie ebenfalls zur seitenwand, nutzt aber nix sie hat ihre beine angezogen.

Noch vier stationen bis zur mitte. Ob ich wohl sitztenbleibe? Ob sie sitzen bleibt und weiterfährt, weiter bis zur endstsation, ob sie auf die stimme hört alles aussteigen? Weiterfahren bis zum ende. Zur endstation. Endstation sehnsucht. Endstation oder bitteres ende, süß wie die liebe. Aber nein zerkrümelt, dick mit harter butter, kein platz für marmelade oder honig.


jens schreblowsky - alletagekunst - 31.10.2004

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Kommentare zu diesem Text


 Martina (30.09.05)
ich finde du schreibst richtig gut Ich lese gern deine Texte Lg Tina

 jds meinte dazu am 30.09.05:
hallo tina, vielen dank . demnaechst gibts mehr. grueszle jds
mormoh (29)
(09.12.05)
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Werefrog (22)
(27.05.06)
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 jds antwortete darauf am 06.06.06:
hallo werefrog,
vielen dank fuer deinen schoenen kommentar , auch dasz dir mein klavierspiel gefaellt hm *g*. schoen zu vernehmen dasz mein versuch, den text 'rueberzubringen', gelungen ist.
grueszle
jds
KeinB (29)
(14.07.08)
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