zeitlos

Kurzgeschichte zum Thema Zeit

von  jds

zeitlos

Der herbst ging zu ende, während seinem nachhauseweg fand rüdiger s. aus e. auf dem boden in der kleinen allee diesmal keine kastanie mehr, seine ausgebeulten taschen blieben leer.
In seiner wohnung angekommen nahm rüdiger s. aus e. die letzte der porzellanküchenuhren von der wand und verstaute sie in seiner aktentasche. An die stelle der uhr hängte er die totenmaske einer alten frau. Seit ihrem tod hatte sie zu lächeln begonnen. Was das leben und der lauf der zeit nicht ermöglichte, gelang rüdiger s. aus e.

In der hand. das feine wolltuch, mit dem er immer die kastanien auf hochglanz polierte, verharrte rüdiger s. aus e. einen moment bevor er es in den ofen warf.
Im flur seiner wohnung suchte er aus einem der sich auf beiden seiten stapelnden alten telephonbüchern die bätter heraus, die er zwischen die seiten gelegt hatte, um sie zu trocknen. Diese blätter und eine rolle transparenten klebebands kamen zu der uhr in seiner aktentasche.

Das nun seinem zweck entbundene telephonbuch legte rüdiger s. aus e. andächtig auf den küchentisch. Er begann sorgfältig blatt für blatt herauszutrennen und zu papierschiffchen zu falten. Kurz vor tagesanbruch war nur noch der pappeinband  übrig. Rüdiger s. aus e. verstaute die papierschiffchen, die nicht in der aktentasche platz fanden in seinen hosen- und jackentaschen.
Der vollständigkeit halber sei hier noch angemerkt, dass rüdiger s. aus e. es schon vor längerer zeit aufgegeben hatte nummer für nummer aus den telephonbüchern zu wählen um sich deren korrektheit zu versichern und etwaige unstimmigkeiten der telephongesellschaft zu melden, was diese sich allerdings schon nach einigen anrufen von rüdiger s. aus e. misslaunig verbeten hatte.
Noch vor dem morgengrauen machte sich rüdiger s. aus e. auf den weg zu der brücke über den kleinen fluss. Bewegungslos blickte er auf das dunkle wasser, dass unter der brücke mit einem leisen gurgeln an ihm vorbeifloss. Die pralle aktentasche fest an sich gepresst stand er so eine zeitlang, bis er mit einem leisen seufzer die tasche öffnete, die uhr hervorzog und sie in den fluss warf. Einige der zuoberst liegenden papierschiffchen flatterten als kleine weisse wolke ebenfalls dem wasser entgegen. Mit einem weiteren seufzer suchte rüdiger s. aus e. die restlichen papierschiffchen aus der aktentasche. Er leerte seine hosen- und jackentaschen und lies die papierschiffchen in weiteren kleinen weißen wolken in den fluss fallen.
Als die letzten der hellen punkte auf dem dunklen wasser verschwunden waren wischte er sich mit dem zeigefingern über die augen und machte sich wieder auf den weg zu seiner arbeit.
Mit fest aufeinandergepressten lippen nahm rüdiger s. aus e. die becherovkaflasche aus dem kühlschrank und leerte sie in den abguss.
Drei leichen warteten mit teilnahmsloser miene darauf, dass ihnen rüdiger s. aus e. ein lächen auf ihr antlitz zauberte, das ihnen zeitlebens versagt blieb. Doch als rüdiger s. die körper wieder zurück in den kühlraum schob konnte man nichts als eine leichte verwunderung auf ihren gesichtern bemerken.
Als rüdiger s. aus e. auf seinem nachhauseweg in der kleinen allee ankam befand sich in seiner aktentasche nur das klebeband und die getrockneten blätter. Blatt für blatt nahm er nun heraus und klebte diese mit einem stück klebeband, dass er mit den zähnen von der rolle abbiss, an alle zweige die er erreichen konnte.
In den nächste tagen und wochen sah man ihn auf einer kleinen leiter stehend blatt um blatt an die zweige der bäume in der kleinen alle kleben.
Und jedes mal wenn nun rüdiger s. aus e. durch die kleine alle ging erfüllte ihn ein leichter anflug von tiefem stolz.
Vor dem ersten frühlingstag sammelte rüdiger s. aus e. die leeren pappeinbände der Telefonbücher ein, zerschnitt sie mit der nagelschere in kleine quadratische stücke und füllte mit diesen seine aktentasche.
Am nächsten morgen in  aller frühe begab er sich wieder zu der brücke, die über den kleinen fluss führte und schaute einen moment gedankenverloren in das bleigraue von einigen grünen tangsträhnen durchsetzte und durch die strassenlaternen auf der brücke perlmuttartig schimmernde wasser. Durch den flug einer ente gestört, nahm rüdiger s. aus e. seine tasche und leerte sie auf die strasse in der mitten der brücke, zog ein schachtel mit streichhölzern aus seiner verbeulten hosentasche und zündete den pappschnipselberg an.
Langsam ging er davon ohne sich noch einmal nach dem lustig flackernden feuer umzusehen.
In dem bestattungsunternehmen wartete bereits die leiche eines jungen mannes auf rüdiger s. aus e. Er wartete darauf ein lächeln zu erhalten um noch ein letztes mal denen, die ihm die letzte ehre erwiesen, ins gesicht zu lachen.
Rüdiger s. aus e. nahm die töpfchen und tuben aus dem kühlschrank, füllte eine spritze mit silikonmasse und spritzte sie dem jungen mann unter die haut. Die augenlider zog er zurück und nähte sie am oberen und unteren augenrand fest, so dass die augen rieseig erschienen und man meinen wollte sie fielen gleich aus den höhlen. Rüdiger s. aus e. massierte das langsam sich verfestigende silikon unmter der gesichtshaut des jungen mannes und begann aus den feinen unschuldigen gesichtszügen eine schreckliche fratze zu formen. Mit einem schraubendreher brach er den kiefer auf und zog die zunge des jungen mannes hervor. Damit diese nicht wieder in den mund zurückfiel nähte er sie in der mitte an dem linken mundwinkel des jungen mannes fest.
Mit tiefer zufriedenheit betrachtete rüdiger s. aus e. sein werk, hob die leiche in den vorbereiteten sarg und schob diesen in den raum in dem der junge mann ein letzes mal besuch erhalten sollte.
Wieder in seiner wohnung zurück blickte rüdiger s. aus e. jeder der totenmasken lange in die leeren augenhöhlen, strich sanft mit seinem zeigefinger über die lippen auf dem gesicht fühlte noch einmal jedem lächeln nach das er den toten mit auf ihren letzten weg gegeben hatte, nahm die maske vom haken und fing an sie links und rechts auf dem flur zu stapeln.



jens schreblowsky - alletagekunst

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Kommentare zu diesem Text

Sez (36)
(18.01.06)
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 jds meinte dazu am 22.01.06:
hallo sez,
der zusammenhang ergibt sich im zusammenhang mit den beiden ersten teilen,
der schluessel fuer die "zeitlosigkeit" steckt am anfang des textes .
"zeitlos" hat nur indirekt mit den twangshandlungen zu tun... es ist natuerlich alles etwas versteckt... ich erinner an das projekt "zwischen den zeilen"

grueszle
jds
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