Gestörte Verhältnisse

Erzählung zum Thema Verwirrung

von  AZU20

Die nachfolgende Geschichte hat sich so und nicht anders in einem bei Tagestouristen beliebten Gasthaus in der Nähe von Manderscheid zugetragen. Es hat wenig Sinn, im Umkreis des bekannten Eifelortes mit seinen gewaltigen Burgen jede Gastwirtschaft heimzusuchen, um Näheres zu erfahren. Alle Beteiligten wissen das Geheimnis zu wahren. Auch Anfragen beim Autor erübrigen sich.

Man stelle sich folgende Szene vor: Ein warmer, sonniger Sommertag, was in der Eifel vergleichsweise selten ist, genauer gesagt: Ein Sonntag um die Mittagszeit. Das Lokal ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Dies gilt vor allem für den weitläufigen Biergarten hinter dem Wirtshaus. Hier genießen viele Menschen, vor allem Wanderer, ihre verdiente Mittagspause. Ehepaare aller Alterstufen, Familien mit Kindern und Hund und was sich sonst noch so zu Mittag eingefunden hat. 

Alle erfreuen sich an dem gewohnt reichhaltigen Essen. Die Wirtin kocht selbst, und die angeschlossene Metzgerei liefert die Zutaten.
So erlebt niemand unmittelbar mit, wie vor dem Gasthaus ein roter Ferrari hält. Ihm entsteigt freilich nicht Michael Schumacher, wie man hätte vermuten können, sondern ein drahtiger, sehr gepflegt aussehender Mann in den besten Jahren. Er springt aus dem Luxusfahrzeug, geht um den Wagen herum und öffnet seiner Begleiterin die Tür.
Und diese Begleiterin würde jedem, der ihr beim Aussteigen zusieht, den Atem verschlagen. Aber es schaut eben niemand zu, weil alle auf der Terrasse hinter dem Haus sitzen.
Aus dem Wagen steigt eine junge Frau angetan mit einem Hauch von orangefarbenem Sommerkleid. Dünne Sandaletten an den Füßen, eine hochgesteckte Frisur mit kurzem Zopf, ein zartblaues Seidentuch um den schlanken Hals. Pechschwarze Haare rahmen ein Gesicht von erlesener Schönheit. Das Kleid enthüllt mehr als es verdeckt. Die schmalen Träger lassen nicht nur die Schultern frei, der sparsam verwendete Stoff lässt auch den langen, schlanken Beinen freien Lauf. Um den rechten Oberarm schlingt sich ein goldfarbenes Schmuckstück wie die Ranke einer Kletterpflanze. 
Ein kurzer Blick zum Gasthof hinüber, und schon betritt das ungleiche Paar den Flur des Hauses, sieht durch die Glastür am Ende die Gesellschaft im Biergarten und lässt die Tür auf der rechten Seite des langen Gangs mit der Aufschrift „Gaststube“ links liegen.

Der Mann stößt die Glastür auf, und die beiden betreten den gepflasterten Untergrund der Terrasse. Das Pärchen macht ein, zwei Schritte und bleibt dann stehen, um alles auf sich einwirken zu lassen: Geklapper von Gläsern und Tellern, Geplapper von Kindern, lautes Lachen und viele andere Geräusche. Ein Gassenhauer der bekannten Kölner Formation der Höhner quillt aus den am Rand des Gartens aufgestellten Lautsprechern.

Den beiden geht es aber wohl mehr um ihre Wirkung auf die im Garten versammelten Gäste. Und die ist gewaltig. Denn kaum werden die Menschen der Neuankömmlinge ansichtig, wird es schlagartig still. Selbst der große, schwarze Hund an Tisch Nr. 23 vergisst sein Jaulen. Die Bienen und andere fleißige Insekten in den Bäumen am Rand des Gartens und an den Blumentöpfen auf der Mauer, die ihn an der Rückseite vom Nachbargrundstück abgrenzt, scheinen zu verstummen. Mit einem Wort: Die Eifel hält den Atem an und staunt.
Dies hört auch nicht auf, als die beiden sich durch die dicht stehenden Tische schlängeln und auf einen leeren Tisch im Hintergrund zusteuern. Der Mann legt das Kärtchen mit dem Hinweis auf die Reservierung zur Seite, rückt seiner Begleiterin einen Stuhl zurecht, wartet geduldig, bis sie Platz genommen hat, und setzt sich lässig ihr gegenüber hin. 
Immer noch kann man im Biergarten an jenem Sonntagmittag in der Nähe von Manderscheid eine Stecknadel fallen hören. Erst als die Bedienung auftaucht und die Bestellung aufnimmt, schwillt der Lärm langsam wieder an. Auch die Insekten nehmen ihre verdienstvolle Tätigkeit wieder auf. Wer aber nun auf den Gedanken käme, es sei wieder Normalität eingekehrt, irrt sich. Die Männer an den Tischen starren ausnahmslos zu der graziösen, jungen Frau hinüber, wobei sie krampfhaft versuchen, dies vor Frau und Kindern zu verheimlichen. An einem Tisch sitzen vier junge Männer, die regelmäßig die Plätze wechseln. So hat jeder im Minutentakt jeweils den besten Blick auf das Objekt seiner Begierde.

Die Taktik besagter Ehemänner dagegen führt nur vorübergehend zum Ziel. Ihre Frauen merken schon bald, was gespielt wird. Sie sind sich im klaren darüber, dass sie –verschwitzt von der Wanderung in heißer Sonne- kaum mit der fremden Schönen mithalten können. Zudem ärgern sie sich darüber, wie mitleidig ihre Männer sie anschauen, wenn sie sich kurzfristig vom Anblick der jungen Frau losreißen müssen. Erste intensive Auseinandersetzungen sind die notwendige Folge. Auch die vier jungen Männer am Tisch 19 streiten sich, weil der ein oder andere sich beim Wechselspiel benachteiligt fühlt. Am Ende herrscht an allen Tischen Krieg außer an dem, dessen Besatzung die Ursache der mittäglichen Unbill ist. Und vor allem der Mann, der eher 60 als 50 Jahre zählt, aber jünger aussieht, genießt das Schauspiel in vollen Zügen. Zärtlich schaut er seine Begleiterin an und unterhält sich angeregt mit ihr, ohne auch nur einen Augenblick die Gesamtsituation aus den Augen zu verlieren. Schließlich erhebt er sich beinahe triumphierend und verlässt vorübergehend den Garten. Die junge Frau, kaum  älter als 25 Jahre, sitzt ruhig da und kostet die bewundern-
den Blicke aus, sofern sie noch zugelassen werden.

Die Besatzung des roten Ferrari soll nach der Überlieferung eine Stunde bei einer Flasche Rotwein zugebracht haben. Während dieser Zeit hat niemand das Lokal verlassen. Als die beiden am Ende zahlten und wieder in ihr Fahrzeug einstiegen, gab es nur wenige, die dieses Schauspiel miterlebten, denn die meisten Männer hatten striktes Ausgehverbot.
Das Ende der Geschichte ist schnell erzählt. Wirtin und Bedienung weigern sich bis heute hartnäckig zu verraten, wer die exotischen Gäste waren. Vielleicht kennen sie aber auch wirklich nur den italienisch klingenden Nachnamen des Mannes, der den Tisch bestellt hatte.
Es soll zwei Ehescheidungen im Anschluss an diesen Sonntag gegeben haben, die ursächlich mit der erzählten Geschichte in Zusammenhang gebracht werden.
Im Raum Manderscheid hält sich hartnäckig das Gerücht, die sizilianische Mafia habe sich entschlossen, den Eifelraum zu erobern. Der Mafiaboss fahre schon seit längerem mit seiner jungen Gespielin in einem roten Ferrari herum, um das Terrain für die Übernahme vorzubereiten. Es ist aber auch möglich, dass einer der bekannten Autoren der sogenannten Eifelkrimis seine Hände im Spiel hat. Wie man sich hinter vorgehaltener Hand erzählt, soll der Hund von Tisch Nr. 23  seit jenem Sonntagmittag nie mehr gejault haben.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text

Nunny (73)
(30.12.06)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 AZU20 meinte dazu am 30.12.06:
Liebe Nunny,

es freut mich, dass dir die Geschichte so gut gefällt. Ich habe sie so erlebt, wenn auch an einem anderen Ort. Vielen Dank für Empfehlung usw. und nochmals die besten Wünsche
JürgenSanders (54)
(30.12.06)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 AZU20 antwortete darauf am 30.12.06:
Lieber Jürgen,
vielen Dank. Ich sass mit drei jungen Männern an einem Tisch und habe den Wechselrhythmus erfunden. Dir noch einmal alles Gute. Ich freue mich schon auf unseren Austausch in 2007
orsoy (44)
(30.12.06)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 AZU20 schrieb daraufhin am 30.12.06:
Liebe Konni, vielen Dank. Ich habe es schon Jürgen geschrieben: Ich sass mit drei jungen Männern an einem Tisch und habe den Wechselrhythmus erfunden. Nochmals alles Gute

 Bergmann (01.01.07)
Mit Vergnügen las ich die gut und klug gebaute Geschichte mit den zwei Perspektiven und der Spannung darin. Auch die satirischen Eifelstiche gefallen mir - auch der Schluss, der sich an den Beginn wieder anschließt, gelingt und rundet das Nichts an Handlung, das zugleich Alles bedeutet(e), gekonnt ab.
Nur der letzte Satz gefällt mir nicht, er kommt mir zu gewollt vor. Mit dem Hund kann der Text ruhig aufhören, aber nicht so - denn zuletzt wird ein allwissender Erzähler eingeführt, der vorher nicht so da war.
Vielleicht ist das hier Ihr am besten strukturierter und technisch am besten erzählter und formulierter Text mit einer besonders angemessenen und gut sitzenden Ironie.
Ja - mehr davon!

 AZU20 äußerte darauf am 01.01.07:
Lieber Herr Bergmann,
ich freue mich sehr, dass Ihnen dieser Text so gut gefällt und Sie ihn derart herausheben. Herzlichen Dank. Über den letzten Satz denke ich nach. Übrigens auch ein gehöriger Schuss Selbstironie. Ich sass mit drei jungen Männern am Tisch und habe das Wechselspiel eingeführt. Was halten Sie von dem neuen Schluss? LG
(Antwort korrigiert am 01.01.2007)

 Bergmann ergänzte dazu am 01.01.07:
Das Wechselspiel... das zeigt Sie als Theatermensch. - Ja, jetzt ist der Schluss voll okay, viel besser, subtiler.
Wolfsblut (20)
(01.01.07)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 AZU20 meinte dazu am 01.01.07:
Liebe Wolfsblut, freue mich, dass dir der Text so gut gefällt. Sie ging am Ende ganz nah an mir vorbei. Ihre Aura streifte mich gewissermaßen. Sie ließ mich in völliger Verwirrung zurück.
Ich wünsche dir natürlich ebenso ein glückliches neues Jahr. Ich werde nicht vergessen, bei dir immer mal wieder reinzuschauen. LG Armin
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram