Der Aussteiger

Erzählung zum Thema Abgrenzung

von  AZU20

„Der Weise trägt all sein Gut bei sich.“
(Seneca)

Ernst Granderath hat sich eines Tages entschieden auszusteigen. Er gab seine Wohnung auf, vertraute sich mit wenigen Habseligkeiten den Launen der Großstadtstraßen an, ohne darauf vorbereitet zu sein. Von nun an kämpfte er jeden Tag darum, nicht zu erfrieren, zu verhungern oder zu verdursten. Er ertrug es, wenn Menschen, zu denen er früher jeglichen Kontakt abgelehnt hätte, ihn von oben herab behandelten und wie Dreck unter ihren Schuhen abstreiften. Aus dem erfolgreichen Unternehmer war ein Obdachloser geworden. Seine Beweggründe blieben allen, die ihn kannten,  rätselhaft.

Die Menschen, die er auf der Straße kennen lernte, funktionierten zwar irgendwie noch, aber die Gesellschaft hatte sie längst entsorgt. Viele waren von Alkohol und Drogen so geschwächt, dass sie nur noch mit Alkohol und Drogen vor sich hinvegetierten. 
Ernst Granderath hat nie viel getrunken. Auch jetzt mied er den Schnaps wie einen bösen Geist, gab aber den anderen reichlich, solange er noch Geld besaß. So versuchte er Freundschaften zu schließen.

„Haste noch was für mich?“
„Mensch, hör auf, du hast längst genug.“

Der Alte, der neben Ernst auf der Bank saß, schüttelte den greisen Kopf. In seinem von einem struppigen, weißgrauen Bart eingerahmten roten Gesicht zuckte es, während er die aufgerissenen Lippen gegeneinander bewegte, um sie ein wenig anzufeuchten.

„Mein Hals ist so trocken. In meinem Magen brennt es wie Feuer. Ich schaff das nicht mehr.“

Der alte Johann Weiß lebte schon seit dreißig Jahren auf der Straße. Er hatte Werkzeugmaschinen konstruiert, bevor sein Leben von einem Tag auf den anderen auf dem Kopf stand. Seine Frau verließ ihn, seine Tochter starb bei einem Verkehrsunfall. Ihm kam vor lauter Kummer seine Seele abhanden. In der Werkshalle liefen seine Maschinen weiter, während er wie Abfall auf die Straße fiel. Ernst reichte ihm ein Fläschchen Schnaps herüber. 

Plötzlich stand er vor ihnen und riss Johann den Schnaps aus der Hand. Der Mann war Anfang vierzig, aber seine Haare waren schon grau. Bartstoppeln, verwaschene, schmutzige Jeans, das Hemd hing an der Hose heraus, am Rand zerrissen, Bindfäden statt Schnürsenkeln, vom Teint her südländisch.
„Das ist meine Bank. Verschwindet.“
„Hier gibt es doch Bänke genug.“
„Ja, eben. Geht doch dahin. Das ist meine Bank.“
Er baute sich drohend vor den beiden auf. Als sie nicht gleich spurten, packte er zu und warf Ernst Granderath in das Gebüsch neben der Bank. Johann Weiß, der ihm helfen wollte, landete nach einem gezielten Kinnhaken auf dem Boden. Dann ließ der Mann sich auf seine Bank nieder und setzte die Schnapsflasche an. Ernst rappelte sich auf. Die Äste hatten ihm das Gesicht zerkratzt. Er blutete. Der Angreifer sah ungerührt zu, wie die beiden Männer humpelnd abzogen, und genoss den Schnaps, der ihm überraschend in den Schoß gefallen war.
                                *

So vergingen einige Monate. Ernst Granderath verlor Johann Weiß wieder aus den Augen, gab sein letztes Geld aus, lebte nun wie die anderen von Almosen und trieb sich in Wohnheimen für Obdachlose herum. In den Suppenküchen der Stadt schlug er sich um einen Teller heißer Suppe. Freunde besaß er keine in dieser Welt zu Füßen der feinen Gesellschaft. Die da oben genossen das Sonnendeck, sie trieben sich im Bauch des Schiffs herum. Sie saßen an den Straßenrändern, soffen und bettelten, bettelten und soffen. 
Einer hielt sich abseits. Er war hochgewachsen und schlank. Sein langes, blondes Haar hatte er zu einem Zopf zusammen gebunden. Er trug einen  Vollbart, der sorgfältig gestutzt war. Er kam schlaksig daher und ließ sich immer an der gleichen Stelle auf einem kleinen Mauervorsprung nieder. Bei ihm sah Ernst nie Alkohol. Meist stand eine Flasche Wasser neben ihm auf dem Boden. Seine Kleidung war sauber, löste sich aber an vielen Stellen in ihre Einzelteile auf. Freunde schien er genauso wenig  wie Ernst zu haben. Ruhig saß er da, hin und wieder wackelte er mit dem Kopf als wolle er einen flüchtigen Gedanken abschütteln.
Ernst Granderath schaute hinüber, stand dann auf und setzte sich zum ersten Mal zu ihm. Von dessen Seite kam keine Reaktion. So saßen sie über eine Stunde regungslos beieinander und schwiegen vor sich hin. Plötzlich zauberte er  eine Mundharmonika aus der Tasche und spielte das Lied vom Tod. Ernst schauderte bei der Erinnerung an die berühmte Szene im Film, auch wenn der Mann neben ihm Morricones Musik mit der Mundharmonika zu echtem Leben erweckte. Als er zu spielen aufhörte, versanken beide wieder in bewegungslosem Schweigen.

„Willst du einen Schluck?“
Ernst Granderath fuhr erschrocken auf. Er war wohl eingeschlafen.
„Ja, warum nicht?“
Er setzte die Sprudelflasche an den Mund, trank und gab sie zurück.

„Bist du eingeschlafen?“
„Du hast wunderbar gespielt.“
Der Mann sah ihn erstaunt an.
„Ich heiße Georg.“
„Ernst.“
Die beiden Männer schüttelten sich die Hand. Es kam Ernst Granderath vor als habe er eine Eintrittskarte in Georgs Welt erworben. 

                            *

Ernst und Georg waren seit diesem ersten Händedruck unzertrennlich. Zu zweit fiel manches eben leichter. So nahm das Leben der beiden Obdachlosen eine Weile einen friedlichen Verlauf. Frühjahr und Sommer zogen vorbei mit den üblichen Kämpfen um Essen und Schlafplatz. Im Herbst wurde es abends bereits sehr kalt, und der Winter brach früh über die beiden Männer herein. 
Gegen Ende November kamen die ersten Frostnächte und sie beratschlagten, wie sie die Nächte unbeschadet überstehen konnten. Die wenigen Heime waren restlos überfüllt. Sie gehörten auch nicht zu der Sorte, die sich mit Gewalt ihren Schlafplatz sicherten.

Es war 22.00 Uhr, als die Lichter in der Eingangspassage des großen Kaufhauses ausgingen. Dort bauten sie ihr Nachtlager auf. Sie waren nicht allein, aber die anderen brummten ihr Einverständnis. Mühsam packten sie ihre Schlafsäcke aus, schlüpften hinein, breiteten eine schmutzige Decke darüber aus und setzten sich an die Wand unter den Schaufenstern. Einer zündete einen Gaskocher an und stellte einen Topf, von dem der Lack in breiten Streifen abbröckelte, mit einer Suppe darauf. 
                                             
                                  *
Woher die Horde Jugendlicher plötzlich herkam, konnte die Polizei später nicht mehr klären. Ausgehungert hatten sich die Obdachlosen über das bisschen Suppe hergemacht und darüber alles andere vergessen. Als die Meute johlend über sie herfiel, hatten sie keine Chance. Einer warf seinen Camcorder an, dann begann das „Happy Slapping“. Sie schlugen und traten die hilflosen Männer, die sich zu ihren Füßen stöhnend unter ihren Schmerzen krümmten, bis die ersten Blut spuckten oder bewegungslos dalagen.  Ernst Granderath versuchte weg zu kriechen, als ihn ein Stiefeltritt voller Wucht am Kopf traf. Er verlor das Bewusstsein. 

Ihm war als schwämme er in einem blutroten See. Seine Kleidung hing schwer um seinen ausgemergelten Körper und zog ihn nach unten. Wild strampelnd mühte er sich, seinen Kopf über Wasser zu halten. Wieso war das Wasser so rot? Plötzlich dehnte sich ein riesiger Schatten über ihm aus. Er blickte nach oben und sah einen schwarzen Stiefel mit eisenbeschlagener Sohle. Der kam immer näher und drückte ihn schließlich tief in die rote Flüssigkeit hinein.

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Kommentare zu diesem Text


 Isaban (25.02.08)
Lieber Armin, sei mir nicht Gram.

Deine Geschichte zeigt einige Längen, umschreibt für eine Kurzgeschichte einen zu langen und zu gegliederten Zeitraum und kommt irgendwie erst gar nicht und hinterher im Vergleich dazu unpassend plötzlich zu Potte. Bei o.g. Genre sollte man den Text, das Geschehen in einem Flutsch, an einem Stück lesen können, nicht zerstückelt. Es sollte nur ein Handlungsstrang vorliegen.

Schon die einführenden ersten Abschnitte sind eher untypisch für eine Kurzgeschichte, bei der der Leser normalerweise sofort, vom ersten Satz an, ins kalte Wasser - also mitten ins Geschehen - geworfen wird.

Du legst mehrere Erzählfäden an, die dann nicht wirklich weiter verfolgt werden. Zuerst die Begegnung mit dem alten Johann, dann die Freundschaft mit Georg, die auch nicht wirklich relevant für das Showdown ist, sondern genau so unverknüpft bleibt, wie die Bankszene mit Johann. Hier wird nicht einmal erzählt, was mit Georg bei der Skinhead-Attacke passiert. Er ist also auch nur ein vorbeihuschender Statist.

Dein Text wirkt ein wenig, als hättest du angefangen, eine längere Erzählung zu schreiben, dann irgendwann keine richtige Lust mehr gehabt und schließlich spontan aus genau diesem Grunde das blutige Ende und die "Kurz"-Geschichte beschlossen.

So, wie du deine Geschichte aufgebaut hast entsteht kein richtiger Spannungsbogen, beziehungsweise erst ganz am Schluss, während alles andere nur so gemächlich vor sich hinplätschert und nicht wirklich auf den Showdown am Schluss zuführt. Auch das vorangestellte Zitat (Urheber sollte angegeben werden) zeigt nicht unbedingt einen Sinnzusammenhang zum blutig-dramatischen Story-Ende, nicht einmal, wenn man es unter dem Aspekt der Ironie betrachtet, den man eventuell für die anderen Textstücke anwenden könnte.

Du erzählst in mehreren unverknüpften Episoden, zeigst Aufnahmen aus Ernsts letzten Monaten, wie man in einem Fotoalbum blättert. Für eine Kurzgeschichte müsstest du den Text viel mehr verdichten, müsstest dich auf das Wesentliche konzentrieren, komprimieren. Man könnte natürlich ein anderes Prosa-Genre wählen und/oder den Text noch einmal entsprechend überarbeiten.

Liebe Grüße,
Sabine


Edit: Nur zur zusätzlichen Info, bevor Missverständnisse bezüglich meines Kommentares entstehen.

  Wikipedia/Kurzgeschichte
(Kommentar korrigiert am 25.02.2008)

 AZU20 meinte dazu am 25.02.08:
Liebe Sabine,
vielen Dank, dass du dich so ausführlich und gediegen mit der Geschichte auseinandergesetzt hast. Sie soll evtl. veröffentlicht werden, ein Grund mehr, sie hier zu testen. Sinn und Zweck ist es, den langsamen Totalabstieg eines Menschen zu zeigen, dazu aber auch das Milieu, in das er gerät und in dem er letztlich scheitert, scheitern muss. Es ist vielleicht wirklich keine Kurzgeschichte im herkömmlichen Sinn, aber zu starke Verdichtungen, die Aufgabe von Handlungssträngen gingen am Auftrag vorbei. Also Einordnung in eine andere Literaturgattung? LG

 Isaban antwortete darauf am 25.02.08:
Wie wäre es bei der Genreauswahl ganz schlicht mit
Text oder Erzählung, lieber Armin?

 AZU20 schrieb daraufhin am 26.02.08:
Liebe Sabine, ich habe einiges geändert. Schau doch noch einmal drüber. Danke. LG
orsoy (56)
(25.02.08)
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 AZU20 äußerte darauf am 25.02.08:
Liebe Konni, du hast meine Intention voll erfasst und sehr schöne Worte der Interpretation gefunden. Ich bin durch Sabines fundierten Kommentar natürlich unsicher, wie ich weiterverfahren soll, auch wenn deine Interpretation mir den Rücken stärkt. LG
chichi† (80)
(25.02.08)
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 AZU20 ergänzte dazu am 25.02.08:
Liebe Gerda, vielen Dank für alles. Vielleicht muss ich noch daran arbeiten (s. Sabines Kommentar). LG
Lena (58)
(25.02.08)
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 AZU20 meinte dazu am 25.02.08:
Liebe Arja, vielen Dank für alles. Du siehst, dass doch eine sehr fruchtbare Diskussion um den Text entbrannt ist. LG
elvis1951 (59)
(25.02.08)
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 AZU20 meinte dazu am 25.02.08:
Lieber Klaus,
vielen Dank für alles. Ein guter Freund verschwand eines Tages auf diese Weise, verließ Frau und Kind und starb nach wenigen Jahren auf der Straße. Wir haben nie erfahren, warum er aus seiner gesicherten Position heraus sein Leben so radikal änderte. LG

 Bergmann (26.02.08)
Das sind Cuts. Modern erzählt. Knapp und klar. Das will keine Geschichte mit linearer Handlung sein.
(Die Bezeichnung Kurzgeschichte ist nicht relevant, die Formen sind heute flexibel, die Zeiten Hemingways oder Borcherts und Bölls sind lange vorbei.)

Mir gefällt das Ganze.

Ich empfehle, den allerletzten kleinen Satz zu streichen. Ob E.G. stirbt oder nicht, kann offen bleiben. Die Erniedrigung und Verletzung, falls er überlebt, ist wie ein Tod im Leben.

Auch bewertende, kommentierende Stellen wie: "Auf der Straße herrscht das Faustrecht. Der Stärkere setzt sich durch. So einfach ist das." würde ich streichen - das ist Sache des Lesers. Der Text wird stärker, wenn die Erklärungen fehlen. - Ich würde also nur diesbezüglich kürzen (und das Ausspucken der letzten Zähne weglassen oder mildern) und ein klein wenig da straffen, wo Redundanzen sind.

 AZU20 meinte dazu am 26.02.08:
Lieber Herr Bergmann,
vielen Dank für Bestärkung und Kritik zugleich.
Ich habe so ziemlich alles inzwischen beherzigt und den Text geändert. Bitte schauen Sie bei Gelegenheit doch noch einmal drüber. LG
(Antwort korrigiert am 26.02.2008)
steinkreistänzerin (46)
(26.02.08)
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 AZU20 meinte dazu am 26.02.08:
Liebe Annette,
vielen Dank für alles. Ein guter Freund von mir ist auf diese Weise vor vielen Jahren plötzlich aus dem Leben von Frau und Kind ausgeschieden und als "Penner" auf der Strasse geendet. Wir haben nie erfahren, warum er ausstieg. LG

 Maya_Gähler (26.02.08)
Es macht nachdenklich und betroffen.
Dein Erzählstil gefällt mir sehr gut.
Alles andere wurde ja schon ausführlich kommentiert und wie ich vermute hast du auch schon Änderungen vorgenommen.
Liebe Grüsse,
Maya

 AZU20 meinte dazu am 26.02.08:
Vielen Dank für alles. Du hast bereits den geänderten Text gelesen. LG

 AlmaMarieSchneider (27.02.08)
Ich sehe es ähnlich wie Bergmann und mir gefällt wie es geschrieben ist.

Liebe Grüße
Alma Marie

 AZU20 meinte dazu am 27.02.08:
Ich danke dir sehr für alles. Du hast die redigierte Fassung gelesen. LG
Belisama (47)
(02.03.08)
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 AZU20 meinte dazu am 03.03.08:
Ich danke dir. LG
Herzwärmegefühl (53)
(19.03.08)
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 AZU20 meinte dazu am 19.03.08:
Herzlichen Dank. Ich glaube schon, dass die Korrekturvorschläge noch etwas gebracht haben. Freut mich, dass du ihn noch einmal gelesen hast. LG

 Dieter_Rotmund (14.01.20)
trieb sich in Wohnheimen für Obdachlose herum. In den Suppenküchen der Stadt schlug er sich um einen Teller heißer Suppe.

Das ist schlecht recherchiert, weder kann man sich in den Wohnheimen "herumtreiben" (Aufenthalt nur nachts erlaubt), noch wird sich in Suppenküchen geprügelt.
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