Menschenopfer

Kurzgeschichte zum Thema Arbeit und Beruf

von  AZU20

Ein endloses, glänzendes Metallband, abgewickelt dem Schnittwerkzeug zugeführt, dort in einzelne Platinen, in Rechtecke oder Parallelogramme geschnitten, in die Pressen entlassen, Adam Bürger eilt an riesigen, tonnenschweren Rollen vorbei, läuft vorbei an meterlangen, ratternden  Transportbändern, an langen Pressenstraßen, an orange lackierten Robotern, sie reichen Metallteile von Presse zu Presse, lautlos und präzise, Adams Ziel, eine ältere Blechpresse in der hinteren Ecke der Werkshalle, der Stempel arbeitet unkorrekt.
Die Maschine baut sich wie ein riesiger, dunkler Berg drohend vor Adam Bürger auf, er wischt sich den Schweiß von der Stirn, nur nicht nervös werden, Arbeit unter Zeitdruck, daran wird er sich wohl nie gewöhnen.
Adam steht einen Augenblick lang regungslos vor der gewaltigen Anlage, eine hydraulische Presse, ungeheure Kraft, er beginnt mit der Arbeit, prüft  die Schalttafel,  verschiedenfarbige  Drähte,  Steckkontakte, Schalter und Schalthebel, auf den ersten Blick alles in Ordnung,  vielleicht ein Fehler in der Elektronik, er hebt vorsichtig den Deckel des Schaltkastens ab, beugt sich kurz zu seinem  Werkzeugkoffer herunter, entnimmt ein Prüfinstrument. 

Intensiver Geruch nach Heu. Eine prächtige Wiese mit Blumen in allen Farben. Sie wälzen sich wie Kinder im hohen Gras, Küsse ohne Ende. Er streichelt sie. Sie lächelt, zieht ihn liebevoll an sich, umarmt ihn. Sie ziehen sich aus, lieben sich nackt und unbekümmert  unter dem  tiefblauen Sommerhimmel.
                       
Kein Fehler in der Elektronik,  er verschließt den Kasten wieder, es ist heiß in der Werkshalle, der Schweiß läuft in dicken Perlen von seiner Stirn, über Wangen und Kinn den Hals hinunter, verschwindet in  einem kleinen Sturzbach unter seinem blauen Arbeitsoverall, die seelenlose Maschine macht ihm Angst, sie verweigert sich, lässt ihn nicht an sich heran, wo soll er weitersuchen, warum stellte der bedrohliche Gigant seine Arbeit einfach ein?

Ob Maria schon auf mich wartet? Wir wollten einen langen Spaziergang in den zauberhaften Sommerabend machen. Den Sonnenuntergang am Giersberg genießen. Aber nun kommt diese verfluchte Maschine dazwischen. Ich muss sie auf dem Handy anrufen, sonst regt sie sich unnötig auf.

Noch ein Stück tiefer wühlt er sich in die stählernen Eingeweide hinein, hinein in die Verbindungsachse zwischen Schalttafel und Stößel, gründlich prüft er alle Kontakte und Verbindungen, am Ende endlich  Erfolg, eine winzige Steckverbindung ist unterbrochen, ein lächerlich kleines Detail, er steckt die beiden Drähte wieder zusammen, berührt mit dem rechten Ellenbogen versehentlich den roten Hebel dicht über ihm, die gewaltige Maschine erzittert und setzt sich ächzend in Bewegung, der mächtige Koloss stöhnt auf wie ein hungriges Tier und entfaltet seine ungeheure Kraft, der Pressvorgang beginnt, wie von Geisterhand.
Rückzug ist angesagt, so schnell wie möglich, vorsichtig aus dem Bereich zwischen Stößel und  Presstisch zurückziehen, solange es noch nicht zu spät ist, doch er bleibt  hängen, sein linker Fuß ist eingeklemmt, er zieht, zerrt verzweifelt, doch der Fuß bewegt sich nicht, er schreit, die Geräusche der Maschine übertönen seine Rufe, niemand hört ihn, der Pressvorgang schreitet erbarmungslos voran, sie will ihn pressen, die verfluchte Maschine, die herzlose Hydraulikpresse, das hungrige Ungetüm, will ihn pressen, habe mich nie verformen lassen, von niemandem, der riesige Stempel schwebt  über ihm, rückt immer näher an ihn heran, ich lasse mich nicht  verbiegen, auch von dir nicht, gefühlloser Koloss, hektische Rettungsversuche, er quält sich verzweifelt, vergebliche Mühen, die Maschine gibt ihn nicht frei, will ihr Opfer.

Die Menschenopfer bei den Azteken brachten den Göttern ihre Energie zurück. Sie tranken das  Blut und die verschlangen die Herzen. Dabei empfingen die Opfer das Feuer der Götter in ihren Körpern, als seien sie Gefäße der Göttlichkeit.

Rituelle Opfer, Opfer an der Spitze der Tempelpyramiden, sein Leben verlieren als Opfer, nicht als Opfer der aztekischen Priester im Auftrag der Götter, wohl aber als Opfer moderner Technologie, warum fällt ihm das gerade jetzt ein?, Keine Frage, er ist dazu ausersehen, der Maschine ihre Energie zurückzugeben, und Maschinen sind  gefräßig, sie öffnen überall ihr Maul und verschlingen Menschen, lüstern, erbarmungslos, überall verschlingen Maschinen Menschen, Adam Bürger versucht verzweifelt sich zu befreien, innerhalb von Sekunden rollt sein Leben vor seinem inneren Auge ab, viel hat er erreicht, glücklich verheiratet, ein Häuschen im Grünen, zwei Kinder, ein Junge, ein Mädchen, aber  er hat noch viel vor, sie wollen in diesem Jahr einen Wohnwagen kaufen und mit den Kindern Urlaub am Meer machen, endlich können sie es sich leisten.

Wo ist Adam Bürger?, Anfrage aus der Chefetage, Aufregung im ganzen Betrieb, der Werkschutz, die Kollegen, überall Menschen zwischen den Maschinen wie in einem Ameisenhaufen, alle suchen Adam.
„Wohin hast du ihn geschickt?“
„Zur alten Presse.“ 
„Die ist repariert, die arbeitet  wieder.“

Einer der Männer legt an der Schalttafel der alten Presse in der rechten, hinteren Ecke der Werkshalle den Haupthebel um, der Stempel bewegt sich widerwillig wieder nach oben.

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Kommentare zu diesem Text

JürgenSanders (54)
(14.02.07)
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greatBIGfive (20) meinte dazu am 14.02.07:
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 AZU20 antwortete darauf am 14.02.07:
Lieber greatBIGfive, das ist Bürger in seiner Freizeit, vielen Dank für Dein Lob und herzliche Grüße

 AZU20 schrieb daraufhin am 14.02.07:
Lieber Jürgen, herzlichen Dank für Empfehlung und Kommentar. Du weißt, dass ich geradezu darauf warte, dass Du Dich äußerst. LG
orsoy (44)
(20.02.07)
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 AZU20 äußerte darauf am 20.02.07:
Liebe Konni, herzlichen Dank für Kommentar und Empfehlungen. LG aus dem (noch) närrischen Rheinland.

 Bergmann (20.03.07)
Lieber Herr Schmidt,
diese Erzählung habe ich doch schon einmal gelesen? Sie kommt mir so bekannt vor. Ich glaube, Sioe schickten sie mir mal per e-mail. - Sehr gut erzählt! Einer Ihrer stärksten Texte! Lebendig, druckvoll geht es voran, maßvoll kommentiert.
Übrigens gibt es von Thomas Bernhard eine ähnliche, kleinere Erzählung: Die Maschine.
Ich habe auch eine Variante geschrieben: Am laufenden Band. Ich stelle sie heute mal ins KV-Netz.
Ihnen alles Gute! Ihr UB

 AZU20 ergänzte dazu am 21.03.07:
Ja, es ist die Geschichte, mit der ich bei "Duft des Doppelpunkts" in der Endrunde bin. Vielen Dank für Ihren freundlichen Kommentar und Ihre Empfehlungen. Herzliche Grüße Ihr AS

 Bergmann (21.03.07)
AM LAUFENDEN BAND

Aus dem Mund der Maschine wächst eine zitternde, endlose Gummistange, und eine breite Klinge schneidet im Rhythmus des Stechschritts Gummistücke ab, wie ein Fallbeil. Die Stücke fahren auf einem Band zum Schneiden, dort stößt eine Arbeiterin die Gummistücke in die Halterung des Messerbodens, und die Messer geben dem Gummi den richtigen Schnitt. Der Feinschnitt fällt in die Formung, wird zum Ball gebogen, geklebt, aufgepumpt, lackiert, und endlich in tragbare Netze gesteckt.
Die Arbeiterin, die am Mund der Maschine sitzt, muss im Takt genau die Gummistange mit beiden Händen fassen, um das zuckende Ausschlagen der Stange zu stoppen. Eine Endlosigkeit für die Gedanken und die Gedanken über diese Gedanken, die über den Kopf wachsen.
Der Kopf tut weh. Sie fasst mit beiden Händen in das Zittern, an die Stange, an den Kopf, an die Stange, hält den Kopf fest, der nach vorne fallen will, die Gedanken schmerzen, die Hände greifen den Kopf, und der Kopf geht in die Klinge, die im Tempo des Stechschritts von beiden Händen ihn trennt - der Kopf fährt zum Schneiden, die Arbeiterin dort stößt ihn in die Halterung, die Messer geben dem Stück ihren Schnitt, es fällt in die Formung, ins Netz.
Die Gedanken sind weg, die Schmerzen abgeschnitten. Die Arbeiterin beugt sich zurück, die Arme arbeiten weiter, stoppen das Zittern, Hand in Hand mit der Klinge, dem Netz entgegen.
Am Ende des Tages steht sie auf, verlässt ihren Platz vor dem Mund der Maschine, geht nach Hause mit abgeschnittenen Gedanken. Als sie hereinkommt, ist die Bettdecke schon aufgeschlagen, sie fällt, sie verstehen sich wortlos, sie fällt in das Messer.
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