Am Nikolausabend

Kurzgeschichte zum Thema Allzu Menschliches

von  AZU20

I.

„Ich habe dem heiligen Nikolaus einen Brief geschrieben und ihn wieder zu uns eingeladen.“
Eine größere Freude hätte mir mein Vater nicht machen können.
„Oh, wie schön“, log ich tapfer.
„Du wirst sehen, das wird wieder sehr schön.“
Diese Befürchtung hatte ich auch, während ich krampfhaft darüber nachdachte, welche Untaten ich in letzter Zeit vollbracht hatte. Der heilige Nikolaus wusste alles, soviel war sicher. Der hatte im Himmel wahrscheinlich ein riesiges Büro mit unzähligen Mitarbeitern, die nichts Besseres zu tun hatten, als von morgens bis abends mit riesigen Fernrohren auf die Erde herabzublicken. Wahrscheinlich kümmerte sich ein Mitarbeiter das ganze Jahr nur um mich.
Und diese Typen hatten es in sich. Nur diese dunkelhäutigen, schwerfälligen, kettenrasselnden Ungeheuer, die im Rheinland Hans Muff heißen und mit ihren Ruten uns den Nikolausabend Jahr für Jahr verdarben, konnten diese Himmelswächter im Dienste des heiligen Mannes sein. Und sie entdeckten so einiges, denn wer kann als Neunjähriger von sich schon behaupten, ohne Fehl und Tadel zu sein.

St. Nikolaus war ja eigentlich ein netter Kerl, auch wenn er aus seinem großen, roten Buch unsere gesammelten Missetaten mit tiefer Bassstimme wie ein Buchhalter des Schreckens einzeln vorlas. Am Schluss verteilte er trotz allem Geschenke. Da war manches dabei, wofür wir einen langen Wunschzettel auf der Fensterbank deponiert hatten, und Nikolaus war angeblich mit seinem Schlitten auch dann an unserem Fenster vorbeigefahren, wenn draußen überhaupt kein Schnee lag. Den Wunschzettel holte er jedenfalls Jahr für Jahr pünktlich ab. Er sparte auch nicht mit Süßigkeiten, wenn wir abends unsere Schuhe nach draußen stellten.

Die Drecksarbeit, so will ich es einmal nennen, erledigte Hans Muff für ihn. Der schlug heftig zu, um uns unsere Unarten endgültig auszutreiben. Doch im Laufe des folgenden Jahres vergaß ich regelmäßig diese Schreckensdinge. In Erinnerung blieben die guten Eindrücke wie die bescheidenen Geschenke, die sich unsere Eltern in der Nachkriegszeit für uns vom Munde absparten.

II.

So verging manches Jahr, an dessen Ende der heilige Nikolaus, der einmal irgendwo sogar Bischof gewesen war, wie unsere Lehrerin erzählte, seine vergeblichen Erziehungsversuche beharrlich fortsetzte. Nicht nur bei mir zu Hause, sondern auch noch im Sportverein, dem ich inzwischen beigetreten war.

„Dieses Jahr darfst du deine Schulfreunde zur Nikolausfeier einladen“, eröffnete mir eines Tages mein Vater. Ob das eine so gute Idee war? Doch meine Freunde nahmen die Einladung an, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie wussten von eigenen Feiern, was aufs sie zukam, und meinten, geteiltes Leid sei halbes Leid. 
Und die Geschenke waren nach der Währungsreform auch wieder ansehnlicher geworden.

Der große Tag rückte heran, meine Freunde ebenfalls. Unruhig erwarteten wir Nikolaus und sein Gefolge, das für 17.00 Uhr angekündigt war. Und der hl. Mann war auch in diesem Jahr äußerst pünktlich. Kaum hatte mein Vater die Tür geöffnet, stürmten die wilden Gesellen herein. Ich konnte es kaum glauben: Nicht ein Hans Muff fiel über uns her, nein, es waren so viele, wie Kinder im Raum. Woher wusste St. Nikolaus, dass ich meine Freunde eingeladen hatte? Das hatte ihm sicher mein Vater zugesteckt. Und dafür hätte er eigentlich auch eines dieser Rutenbündel verdient gehabt. 
Das Ritual lief ab wie immer. Das große, rote Buch, die salbungsvollen Worte, das Säbelrasseln der finsteren Gesellen. Doch in diesem Jahr war irgendetwas anders. Ich zerbrach mir den Kopf, kam aber nicht gleich darauf. Als sich St. Nikolaus zuletzt aber an mich wandte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Mir war, als verlöre er mit einem Mal Bart und Brille, denn hinter denen tauchte ein bekanntes Gesicht auf. Das Gesicht des Bäckermeisters Jenniches, den ich seit Jahr und Tag Onkel Philipp nannte.
„Das ist ja Onkel Philipp“, lachte ich los und mit mir die ganze Meute. Auch Hans Muff konnte die Situation nicht mehr retten. Einer von ihnen entpuppte sich als Bäckergeselle Franz, der mir immer bei Besuchen in der Backstube ein Teilchen zusteckte. Philipp Jenniches versuchte zu retten, was zu retten war.
„Der Nikolaus ist in diesem Jahr völlig überfordert. Es gibt immer mehr Kinder auf der Welt. So hat er mich herzlich gebeten, ihm bei euch hier auszuhelfen, was ich natürlich gern getan habe.“
Ich lasse diesen Erklärungsversuch hier im Interesse aller Kinder, die diese Geschichte lesen oder denen sie vorgelesen wird, einfach so stehen. Jeder soll sich seinen eigenen Reim darauf machen.
Damit war Schluss mit den spannenden Nikolausfeiern. Ob ihr es glaubt oder nicht, ich habe sie viele Jahre lang vermisst.

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Kommentare zu diesem Text

Lebenslust (63)
(05.12.07)
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 AZU20 meinte dazu am 05.12.07:
Vielen Dank, liebe Birgid, für dein großes Lob und den Klick. Ich wünsche dir eine schöne Adventszeit. LG
steinkreistänzerin (46)
(05.12.07)
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 AZU20 antwortete darauf am 05.12.07:
Meine Schuhe stehen schon auf der Fensterbank. Vielen Dank und lG
orsoy (56)
(05.12.07)
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 AZU20 schrieb daraufhin am 05.12.07:
Vielen Dank für deinen freundlichen Kommentar und auch dir einen Nikolaustag mit vielen Überraschungen. LG

 GillSans (05.12.07)
Lieber Azu,
Mensch hätte ich das gewüsst, hätte ich mein Türchen heute gar nicht eingestellt. Habe ich wirklich gern und mit Spannung und Freude gelesen. Sehr schön erzählt.
Die Gill

 AZU20 äußerte darauf am 06.12.07:
Liebe Gill,

freut mich, dass dir der Text so gut gefällt. Nun schaue ich mir aber auch gleich deinen an. LG
chichi† (80)
(06.12.07)
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 AZU20 ergänzte dazu am 06.12.07:
Liebe Gerda, ja, die Erinnerungen. Interessant, dass viele ähnliche Erlebnisse schildern können. Danke für alles. LG
Lena (58)
(06.12.07)
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 AZU20 meinte dazu am 06.12.07:
Und es gibt ihn doch? Herzlichen Dank, liebe Arja, fürs Lesen und Kommentieren und dir noch einen schönen Abend. LG
Symphonie (73)
(13.12.07)
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 AZU20 meinte dazu am 13.12.07:
Meinst du wirklich. Herzlichen Dank für den Gruß an der Tür und alles andere. LG

 Maya_Gähler (13.12.07)
Erst heute komme ich dazu deine schöne Geschichte vom Nikolaus zu lesen.
Sie weckt unweigerlich Erinnerungen. Meine Schwester hat einen ganzen Saal zum Lachen gebracht, als sie nach ihren Auftritt mit der Flöte den Nikolaus enttarnte. Es war unser Vater. Ich war damals zwar nicht dabei, weil ich 10 Jahre jünger bin. Aber jedesmal wenn ich etwas über Nikolaus lese, kommt mir diese Gesichte in den Sinn.

Danke für dein Teilen.
Liebe Grüsse,
Gudrun

 AZU20 meinte dazu am 13.12.07:
Auch was länger währt, ist nicht zu spät. Vielen Dank fürs Lesen. Freut mich, dass die Geschichte Erinnerungen bei dir weckte. LG
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