Der Tag vor dem hl. Abend

Kurzgeschichte zum Thema Weihnachten

von  AZU20

I.

Einen Tag vor dem hl. Abend fehlte mir immer noch das wichtigste Utensil zur Feier dieses Festes. Es war dumm von mir, den Kauf dieses unverzichtbaren Gegenstandes so lange hinauszuzögern. Aber es gab Gründe für diese Verzögerung. Wichtige Gründe. Ich habe meinen randvollen Terminkalender verwahrt, um jeden Zweifler davon zu überzeugen, dass ich auch in diesem Jahr den Weihnachtsbaum kaum hätte früher besorgen können.
Nicht unerwähnt soll bleiben, dass ich zu dem Zeitpunkt, an dem die Geschichte spielt, ledig war und genau genommen überhaupt keinen Weihnachtsbaum benötigte. Ja, ich versuchte jedes Jahr vergeblich, am Kauf dieses Schmuckstücks vorbei zu kommen, zumal ich kaum Kugeln und ähnliches besaß, um ihn entsprechend herauszuputzen. Aber immer dann, wenn ich schon glaubte, mich vor diesem alljährlichen Ritual drücken zu können, wenn ich mir einredete, es sei viel zu spät zum Kauf, für mich gäbe es nur noch Ladenhüter, die niemand anderes aufstellen wollte. Immer dann, wenn meine Entscheidung gegen den Baum eigentlich schon gefallen war, meldete sich tief in meinem Inneren eine leise Stimme und flüsterte mir zu, dass mir noch etwas ganz Wichtiges zu meinem Glück fehle.

Und dann gab es kein Halten mehr, dann rannte ich wie von Furien gehetzt zu einer dunklen Ecke unseres Marktplatzes, zu einem alten Mann mit Rauschebart, der eine gewisse Ähnlichkeit mit dem hl. Nikolaus hatte, jedenfalls mit dem Nikolaus meiner seit der Kindheit unveränderten Vorstellung von ihm. Der alte Mann wartete anscheinend schon auf mich, denn kaum wurde er meiner ansichtig, nahm er den letzten Baum, den er noch unverkauft an einer Wand stehen hatte, so als habe er ihn für mich verwahrt, und reichte ihn mir.
Heute fällt mir auf, dass ich Jahre lang immer den gleichen Preis bezahlte. Der hl. Nikolaus rechnete sogar ganz im Gegensatz zu vielen anderen sorgfältig von Mark in Euro um. Ich fühlte mich also gut bedient, zumal die Tannen, die er für mich verwahrte, ausnahmslos ausgeprägte Persönlichkeiten waren, soweit man das von Bäumen sagen kann, und  sich in meiner Junggesellenbude auch fast ohne Kugeln jedes Jahr wohl zu fühlen schienen.

II.

Sie ahnen schon, was sich auch in dem Jahr, in dem sich mein Leben entscheidend änderte, zwischen dem Mann, der wie der hl. Nikolaus aussah, und mir in der dunklen Ecke des Marktplatzes abspielte. Vielleicht zwinkerte er mir intensiver zu als sonst. Vielleicht zählte er das Wechselgeld genauer nach. Vielleicht bilde ich mir das alles aber auch nur ein.
Sicher ist nur, dass ich mich mit meinem Weihnachtsbaum unter dem Arm auf den kurzen Weg nach Hause machte. Nein, stimmt so nicht, sagen wir lieber, es war meine Absicht, den Baum in meiner Wohnung abzuliefern. Denn daraus wurde nichts. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, glaube auch nicht, dass irgendjemand mir glaubt. Wie auch immer, ich schreibe einfach auf, was mir wiederfuhr, und wer es auch immer liest, sollte wissen, dass es nichts als die reine Wahrheit ist.
Ich zog also mit dem guten Stück los und merkte schon nach kurzer Zeit, dass etwas nicht stimmte. Wollte ich nicht auf dem schnellsten Weg nach Hause, um meinen Baum dort aufzurichten und mit dem kargen Schmuck auszustatten? Hatte ich jemals Mühe gehabt, meine Wohnung zu finden? War ich nicht bisher immer Herr über meine Beine gewesen? War es mir nicht immer gelungen, einen Fuß vor den anderen zu setzen? Was brachte mich heute buchstäblich aus dem Gleichgewicht?
Ich war dabei, mich zu verlaufen, und etwas trieb mich dabei an, das außerhalb von mir zu existieren schien. Es war der Baum, mein Weihnachtsbaum zog mich unwiderstehlich mit sich fort. Mir brach der kalte Schweiß aus, mein Herz schlug bis zum Hals. Was war mit mir, was war an diesem Tag kurz vor Weihnachten mit mir los?

Unter der großen, reich geschmückten Tanne am Stadttor stand unser Kirchenchor und jubilierte Weihnachtslieder. Ich wollte wie immer einen Augenblick stehen bleiben und zuhören. Doch der Baum erlaubte es nicht. Anders kann ich es nicht ausdrücken. Er drängte mich, durch besagtes Tor den Mauerring der kleinen Stadt zu verlassen.
Wer jetzt denkt, ich sei vor der Stadt orientierungslos in der Dunkelheit umhergeirrt, hat immer noch nicht begriffen, dass ich schon längst die Regie über das Geschehen, über mich verloren hatte. Mein Weihnachtsbaum hatte die Initiative ergriffen, und ich folgte ihm. Beinahe bin ich geneigt, ein altes Sprichwort zu strapazieren: Halb zog er mich, halb sank ich hin. Das trifft jedenfalls meine damalige Situation am besten. Außerdem war die Ausfallstraße aus der kleinen Stadt hell beleuchtet.
Mein Weihnachtsbaum jedenfalls trieb mich zielstrebig Richtung Bahnhof und dann ihm gegenüber in das mittlere von drei Häusern, die man in unserer Stadt die drei Handtücher nennt. Fragen Sie mich nicht, warum ich gerade auf den mittleren der drei Klingelknöpfe drückte. Während ich noch damit beschäftigt war, mich mit meinem Reiseführer erwartungsvoll vor der Haustür aufzubauen, flammte im Flur Licht auf. Irgendjemand lief eine Treppe herunter und näherte sich der Tür. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss, das schwere Portal, offensichtlich Jugendstil, drehte sich schwer ächzend nach innen. Vor mir stand eine hübsche, junge Frau. Ersparen Sie mir, sie in allen Einzelheiten zu beschreiben. Denken Sie daran, dass ich mit einem Weihnachtsbaum unterm Arm zu kämpfen hatte, der immer schwerer wurde. Eines steht jedenfalls fest: Ich kannte die Frau.
„Kinder, kommt schnell, der Mann mit dem Weihnachtsbaum ist da,“ rief sie nach oben und lächelte mir glücklich zu. Ich lächelte irritiert zurück.
Während ihre Kinder, ein etwa zehnjähriger Junge und ein Mädchen, das vermutlich zwei oder drei Jahre jünger war, die Treppe herunterwirbelten, versuchte ich zu verstehen, was ich gerade erlebte. Sie werden sich fragen, woher ich die Kinder so genau kannte. Die Antwort ist einfach: Ich hatte sie an der Hand ihrer Mutter schon des öfteren gesehen und ihren liebevollen Umgang mit den beiden insgeheim bewundert.
„Der Weihnachtsbaum, der Weihnachtsbaum ist da,“ krähten sie glücklich und zerrten so an seinen Zweigen, dass ich fast das Gleichgewicht verlor.
Man bat mich nicht ins Haus, nein, man zog mich samt Baum hinein und die Treppen hoch in die kleine, gemütliche Wohnung. Kistenweise standen Kugeln, Lametta und Kerzen schon bereit.





III.

Nach zwei Stunden stand der Baum geschmückt da. So schön hätte er bei mir zu Hause niemals ausgesehen. Wir tranken Kaffee, aßen Plätzchen, während die Kinder ausgelassen um den Baum tanzten. Und dem schien es zu gefallen. Schließlich lud meine Gastgeberin mich noch zu einem Glas Wein ein. Ich hatte längst aufgehört, mich darüber zu wundern, was da am Vorabend des hl. Abends über mich hereingebrochen war. Es war wie ein Wunder. Aber wann sollten Wunder denn sonst passieren, wenn nicht zu dem Zeitpunkt, an dem wir die Erinnerung an uralte Mysterien wach halten?
Den hl. Abend verbringe ich bei meinen neuen Freunden. Hoffentlich finde ich noch ein paar passende Geschenke.


Anmerkung von AZU20:

Zwei Tage zu früh, aber geht nicht anders

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Kommentare zu diesem Text

steinkreistänzerin (46)
(21.12.07)
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 AZU20 meinte dazu am 21.12.07:
Ich danke dir für alles. Das mit den Gummibärchen ist eine interessante Vision. LG
chichi† (80)
(21.12.07)
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 AZU20 antwortete darauf am 21.12.07:
Liebe Gerda, das freut mich sehr. Herzlichen Dank für alles. LG

 Maya_Gähler (21.12.07)
Eine wunderbare Geschichte. Spannend geschrieben. Mit Freude gelesen.
LG, Gudrun

 AZU20 schrieb daraufhin am 21.12.07:
Liebe Gudrun, herzlichen Dank für alles. LG

 Isaban (21.12.07)
Was für eine zauberhafte Weihnachtsgeschichte!
Gut gefällt mir auch, dass hier keine umwerfende Knallauffallromanze geschildert wird und dass noch viele Fragen offen bleiben.
Eine Geschichte, die Wärme zeigt, ein Lächeln und ein Selberweiterspinnen schenkt, genau das Richtige, um ein bisschen in Tannenduftstimmung zu kommen.
Ich habe sie gern gelesen, Armin.

Liebe Grüße und auch dir wünsche ich einen wundervollen Restdezember

Sabine

 AZU20 äußerte darauf am 21.12.07:
Diesen wunderbaren Kommentar musste ich ganz einfach noch schnell beantworten. Ich bin glücklich, wie sehr du dich in diese Geschichte hinein gefunden hast. Vielen Dank für alles. Wir lesen uns wieder im Jahr 2008. Garantiert.

 GillSans (21.12.07)
Ach, das habe ich sehr gern gelesen. Ich habe übrigens keinen Tannenbaum, ich habe meine Riesenwolfsmilch (Kaktus) geschmückt, weil ich es nicht einsah einen treuren Baum zu kaufen, wenn wir eh kaum daheim sind. Aber auf dem Kaktus blitzen Lichter und Englein (hoffe sie tun sich nicht stupfen).
Exotische weihnachtsbaumgrüße sendet die Gill

 AZU20 ergänzte dazu am 22.12.07:
Liebe Gill,

keine schlechte Idee. Dank für alles und weihnachtliche Grüße.

 tulpenrot (28.12.07)
Das ist eine liebenswerte Geschichte - und nun will ich wissen, wie es weiterging. Hast "du" "sie" gekriegt? Schließlich habt ihr ja nun einige Tage feiern dürfen ........ Gab es also sozusagen auch noch ein happy end?
(Halb zog sie ihn ....) Unernste Grüße
Angelika

 AZU20 meinte dazu am 28.12.07:
Liebe Angelika,
das wird noch nicht verraten. Allerdings täuscht die Ich-Form. Es ist freilich ein mit märchenhaften Motiven ausgeschmnückter wahrer Kern vorhanden. Vielen Dank fürs freundliche Lesen. LG und guten Rutsch nach 2008

 tulpenrot meinte dazu am 01.11.23 um 20:51:
Zufällig heute gelesen - nach 16! Jahren -und immer noch für gut befunden!  Und wo war noch mal die Fortsetzung dazu?

Antwort geändert am 01.11.2023 um 20:52 Uhr

 AZU20 meinte dazu am 02.11.23 um 09:45:
Meine Liebe.Das ist lange her, ab das happy end bleibt weiterhin unverraten. LG

 AZU20 meinte dazu am 02.11.23 um 09:47:
Vielen Dank für die Aufnahme in Deine Lieblingstexte.
Lena (58)
(06.01.08)
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 AZU20 meinte dazu am 07.01.08:
Ich stimme dir voll zu, liebe Arja. Vielen Dank und lG
steyk (58)
(22.01.08)
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 AZU20 meinte dazu am 22.01.08:
Herzlichen Dank für den überraschenden Kommentar, lieber Stefan, und den klick. Hatte mich schon gewundert. LG

 NormanM. (17.10.12)
Eine sehr schöne Geschichte, so kann es manchmal gehen.

Gruß Norman

 AZU20 meinte dazu am 17.10.12:
Vielen Dank. LG
Fabi (50)
(23.11.14)
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 AZU20 meinte dazu am 23.11.14:
Das freut mich aber,denn an der Geschichte hänge ich und will sie auch in ein Buch übernehmen. Danke für alles und einen schönen Sonntag. LG

 Lluviagata (23.11.14)
Ich danke Fabi von Herzen, dass sie diese wunderbare Geschichte ausgegraben hat.

Mein größter Dank gilt natürlich dir, lieber Armin!

Berührte Grüße
Llu ♥

 AZU20 meinte dazu am 23.11.14:
Ich freue mich sehr, zumal ich an der Geschichte sehr hänge. Danke für alles und einen schönen Sonntag. LG
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